Rezensionen

Sonntag, 20. Dezember 2015

Blütezeit der Spätromantik

Rachmaninow, Elgar und Sibelius im 4. Kapell-Sinfoniekonzert

Zwischen 1899 und 1909 sind die drei sinfonischen Werke entstanden, die bei der Staatskapelle Dresden im 4. Sinfoniekonzert der laufenden Saison auf den Pulten lagen - der Zeitraum benennt eine Blütezeit der Spätromantik, in der auch die meisten Sinfonien von Gustav Mahler oder sinfonische Dichtungen von Richard Strauss veröffentlicht wurden. Sergej Rachmaninow, Edward Elgar und Jean Sibelius in einem Programm gegenüberzustellen bot also reizvolle Bezüge, beispielsweise im Einbezug der nationalen Schulen und weitreichenden Musiktradition der jeweiligen Länder.

Thematisch war der erste Teil des Konzertes dem Meer gewidmet - in Rachmaninows berühmter, 1909 beim Aufenthalt in Dresden vollendeter sinfonischen Dichtung "Die Toteninsel" nach dem Gemälde von Arnold Böcklin sind die Wogen durchweg spürbar und durchaus von Lebendigkeit durchzogen, bei Böcklin liegt das Wasser still. Der Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin, Donald Runnicles, gastierte wieder einmal im Kapellkonzert und wollte wohl zu Beginn für eine passende, kontemplative Stimmung sorgen. Etwas zuviel Ordnungswille im ersten Drittel führte aber genau zum Fehlen des Klangschmelzes, der eine spannungsvolle, zur Steigerung taugende Atmosphäre hervorrufen würde. So kam Runnicles mit dem Orchester erst ab dem zweiten Höhepunkt des Werkes wirklich in Schwung, waren auch immer wieder kleinste Schwankungen im Tempo und im Zusammenspiel zu beobachten.

Edward Elgars Orchesterlieder "Sea Pictures", Opus 37 sind auf der britischen Insel weitaus häufiger zu hören als hier - See und Se(e)hnsucht liegen uns Kontinentalbewohnern nicht so sehr im Blute, als dass wir eine manchmal mit gehörigem Pathos verbundene Meereslyrik als allererste Vorliebe nennen würden. Die schottische Mezzosopranistin Karen Cargill zeigte sich vertraut mit den Liedern und gestaltete sie farbenreich und technisch mühelos - ihr Timbre mit einer schon etwas fahl-eisernen Tiefe mag zwar gewöhnungsbedürftig sein, aber für die zum Teil balladesken Lieder passte die Interpretation. Den üppigen Orchesterpart hatte Runnicles vorsichtig sachwaltend in der Hand, viele Details dieser Meeresmusik kamen so gut zur Geltung. Dass Jean Sibelius in dieser Komponistenrunde als fortschrittlichster Kandidat wirken musste, ist kein Geheimnis: wer solch eine ruppig-schöne Sinfonie als Erstling auflegt, zeigt trotz mancher im Stück verarbeiteten Vorbilder der Tradition einen großen Mut.

Ein herrliches Klarinettensolo (Robert Oberaigner) leitete die Sinfonie ein, schwungvoll nahm Runnicles das Allegro des ersten Satzes auf. Erneut waren hier kleine Mängel in der Homogenität und im fließenden Zusammenspiel der Orchestergruppen spürbar und trotz vieler wirklich traumhaft schöner Stellen vor allem im 2. und 3. Satz kam die letzte, zwingende Kraft der Interpretation nicht zustande. Der von vielen Kontrasten und Stimmungsumschwüngen bestimmte 4. Satz wurde von Runnicles kaum atmend in den Übergängen durchgezogen, so dass sich die Intensität des Spiels nicht an allen Stellen frei entfalten konnte, auch fehlte vielen Holzbläserpassagen im Tutti die glänzende Präsenz. Erst zum von Sibelius fahl auskomponierten Abgesang der Sinfonie am Ende des Finales stellte sich wieder eine Hochspannung ein, die man vorher in der Aneinanderreihung schöner Augenblicke vermisst hatte; insgesamt hätte diese starke, eigentlich im Kontext auch sensationell neutönende Sinfonie mehr Innenbetrachtung verdient, die zu Atmosphäre und Spannung beigetragen hätte.
(30.11.2015)

Sonntag, 29. November 2015

Sinfonische Sonderfälle

Dresdner Philharmonie und Sol Gabetta veröffentlichen neue CD-Aufnahmen

Zum guten Ton eines städtischen Orchesters gehört neben der Absolvierung von Konzerten und Tourneen auch die Aktivität im Tonträgermarkt, nicht zuletzt für den heimischen Fan, der die Musik des Orchesters auch mit nach Hause nehmen oder verschenken will. Nach dem auf CD bei Genuin erschienenen Antrittskonzert von Michael Sanderling bei der Dresdner Philharmonie im Jahr 2011 gab es eine längere Pause, nun startet das Orchester durch: In den Konzerten der letzten Jahre war bereits der Augenmerk auf Sinfonik von Ludwig van Beethoven und Dmitri Schostakowitsch gelenkt - jetzt werden die Sinfonien in einem großangelegten Projekt bei Sony auf CD gepaart.

Stellt schon jeder der beiden Komponisten für sich genommen eine Herausforderung dar, sowohl als unbestrittenes Hauptrepertoire aller Orchester wie auch mit einiger Konkurrenz auf dem CD-Markt, so ist die Kombination von Beethoven und Schostakowitsch ebenso ungewöhnlich wie ohrenöffnend. Altes Neu hören wird da ebenso möglich, wie das Neue mit der Tradition zu hinterfragen. Die Kombination ermöglicht Kontrast und Widerspruch, was ohnehin dem Werk beider Komponisten originär innewohnt und bei dem CD-Erstling der Reihe, der die 6. Sinfonie der beiden vereint, in besonderer Weise zum Hauptthema wird. Denn diese Stücke sind sinfonische Sonderfälle: hier die in sich im Tempo steigerungsmäßig angelegte, seltsam kopflose dreisätzige Sinfonie von Schostakowitsch, die ein Werk des Zwischenraums scheint und mehr Fragen aufwirft als Antworten zu geben scheint.

Dort die "Pastorale", die wie ein naturalistisches Exerzitium erscheint, legt man die gleichzeitig entstandene 5. Sinfonie daneben. Sanderling und die Dresdner Philharmoniker überzeugen in beiden Stücken mit dem aus den Konzerten wohlbekannten, warmen Sound - das wirkt nicht nur für beide Komponisten adäquat und kompetent, sondern läßt als Grundhaltung auch viel Flexibilität in verschiedene Richtungen zu. Beiden Stücken ist in der Interpretation gemeinsam, dass Sanderling nicht ins Extrem geht: Beethoven kommt in schlankem Gewande und außerordentlich kantabel daher, sein ländliches Gewitter schockt weniger als dass die langsamen Sätze beredt sind von einer ruhig dahinfließenden Zufriedenheit. Im Klangcharakter weist das interessanterweise weit in Richtung Schumann - die Empfindung, der persönliche Ausdruck als Träger der musikalischen Idee wird ernstgenommen.

Dmitri Schostakowitschs Sinfonie hingegen erhält Wucht und tiefe Emotion, der lange erste Satz ist voller Spannung und überragend ausgespielter musikalischer Details, das Allegro beeindruckt mit der von Sanderling fokussiert angelegten Steigerung zum Höhepunkt. Die Tempo-Zurücknahme des Presto-Finales überrascht und legt Groteskes frei - die Anmerkungen Sanderlings über Schostakowitschs "bewusst falsche Metronomangaben" im Booklet reichen da allerdings nicht aus. Hier sollte man interessierten Hörern mehr an die Hand geben. Das gilt übrigens auch für das Cover: wer eher visuell beim CD-Kauf ausgerichtet ist, wird das altbackene Titelbild übersehen und damit kaum die vorgefundenen, anregenden Interpretationen in Verbindung bringen.

Bereits im August erschien eine weitere Veröffentlichung der Dresdner Philharmonie, hervorgegangen aus einem Nachwuchskünstler-Förderprogramm, das Konzerte und Aufnahme mit dem jungen Pianisten Alexander Krichel ermöglichte. Krichel gastierte im März 2015 im Schauspielhaus mit dem 2. Klavierkonzert c-Moll von Sergej Rachmaninov, das live eingespielt wurde. Diese Einspielung ist wohltuend klar und überhaupt nicht vordergründig auf Virtuosität gebürstet. Orchester und Solist folgen hier dem Prinzip einer sorgfältigen Klanggestaltung, was zu einem selbst im dritten Satz recht entspannten Hörerlebnis gerät. Als Zugabe sind die sechs "Moments Musicaux" überaus hörenswert und machen Lust, die Entwicklung des jungen Pianisten weiter zu verfolgen - Krichel steuert außerdem ein selbstkomponiertes "Lullaby" bei. Dass das Booklet weder den Pianisten noch das Dresdner Orchester biografisch würdigt, enttäuscht vor allem, da Hörer, die auf Entdeckungsreise gehen wollen, sich hier woanders weiterbilden müssen.

Sol Gabetta ist in dieser Saison Artist-in-Residence bei der Dresdner Philharmonie. Da sie erst im Frühjahr 2016 wieder im Konzert zu erleben ist, erscheint ihre soeben erschienene CD mit Werken von Peteris Vasks nicht nur als zeitliche Überbrückung geeignet. Die Musik des 1946 geborenen lettischen Komponisten ist den Dresdnern auch durch das Engagement der Philharmonie und ihres Konzertmeisters Wolfgang Hentrich, der etwa Vasks Violinkonzert "Fernes Licht" und andere Werke aufführte, bestens bekannt. Sol Gabetta stellt nun das 2. Cellokonzert "Presence" sowie zwei kammermusikalische Werke vor, die mit viel inniger Emotion gespielt und auch komponiert sind, stilistisch aber mit einfach behandelter Tonalität nicht konfliktfrei sind und den Hörer in eine überwiegend melancholische Stimmung bringen (sollen?). Wer sich darauf einläßt, wird aber mit Sol Gabettas überragendem Einsatz für diese Stücke belohnt. Sie singt (mit und ohne Bogen), tanzt, klagt und spricht mit ihrem Instrument und gibt diesen Stücken ein herzwärmende Klangcharakteristik - dies vor allem in den vielen solistischen Passagen, die im hier erneut auf CD aufgelegten "Buch für Cello Solo" am zwingendsten erscheinen.
Alexander Keuk

* Ludwig van Beethoven / Dmitri Schostakowitsch: 6. Sinfonien, Dresdner Philharmonie, Michael Sanderling
* Sergej Rachmaninov: 2. Klavierkonzert c-Moll Opus 18, Moments Musicaux Opus 16, Alexander Krichel (Klavier), Dresdner Philharmonie, Michael Sanderling
* Peteris Vasks: 2. Cellokonzert "Presence", Musique du Soir, The Book for Cello Solo, Sol Gabetta (Cello), Amsterdam Sinfonietta, Candida Thompson
(alle Sony Classical)

Aufregendes Debüt

Die italienische Pianistin Beatrice Rana gastierte bei der Dresdner Philharmonie

Verdient macht sich die Dresdner Philharmonie, wenn sie nicht nur Bekanntes und Bewährtes programmiert, sondern auch nicht entdeckten Werken oder jungen Künstlern ein Podium anbietet. Gleichzeitig kann uns als Zuhörer ein junges Talent vermitteln, wie zeitlos große Musik erscheinen kann. Mit eigener, noch junger Lebenserfahrung und frischen Sichtweisen versehen werden die Werke neu beleuchtet, erweitert sich der eigene Hörhorizont. Auf eine solche Entdeckungsreise gehen konnte, wer am Wochenende die Dresdner Philharmonie im Schauspielhaus besuchte.

Der große britische Cembalist und Dirigent Trevor Pinnock leitete das Orchester und hatte die 22-jährige italienische Pianistin Beatrice Rana mitgebracht, die bereits beim hochangesehenen "Van Cliburn Wettbewerb" Preise erhielt und weltweit zu Konzerten eingeladen wird. Nun ist das 1. Klavierkonzert e-Moll, Opus 21 von Frédéric Chopin sicherlich ein für junge Pianisten in seiner offen daliegenden Virtuosität dankbares Konzert, weitaus schwieriger ist es, die darunterliegende Empfindung zu treffen und der Versuchung zu widerstehen, es lediglich als Soloprélude mit Orchesterbegleitung zu verstehen. Nach der von Pinnock außerordentlich differenziert angelegten Orchestereinleitung wurde bereits mit dem ersten Akkord von Beatrice Rana klar, dass Überlegung, Können und Sinnlichkeit bei dieser Aufführung eine selten zu erlebende Liaison eingehen würden.

Rana gestaltete ihre Solopassagen mit einer tollen körperlichen Erdung, aus der heraus sie perlende Brillanz und einen noblen, nuancenreichen Anschlag entwickelte, was Chopin nahezu vergoldete, ihn aber nicht als bloß abzustaubendes Denkmal hinstellte. Selbstbewusstsein und Sicherheit waren hier Grundlage, nicht Äußerlichkeit. So entstanden in den Ecksätzen wunderbare Bögen, hatte die Romanze im Zentrum gerade genau das Quentchen Melancholie, das eben nicht in schweißtreibendes Pathos umschlägt, und war umgekehrt die Fröhlichkeit im dritten Satz nicht exaltiert, sondern von Esprit bestimmt. Mit einem Satz: Beatrice Rana ist eine aus dem Gros vieler guter, junger Pianistinnen und Pianisten herausragende Persönlichkeit, die ihren Weg machen wird, denn sie erreicht durch eine schon jetzt deutlich entwickelte eigene Handschrift mühelos tiefe Schichten der Musik. Trevor Pinnock begleitete mit den Philharmonikern dieses im besten Sinne aufregende Spiel der Solistin nicht nur höchst aufmerksam, sondern fand eine eindrucksvolle Balance der Klangverschmelzung.

Das machte großen Appetit auf die so genannte "Große" Sinfonie C-Dur von Franz Schubert nach der Pause. Und man wurde nicht enttäuscht: Pinnock legte mit unglaublicher Genauigkeit die Stärken dieses Werkes bloß, indem er Verläufe transparent machte, harmonisch und rhythmisch Prägnantes hervorholte und dabei das Ganze auch noch in den historischen Kontext holte: da klang der zweite Satz wirklich nach einem klassischen Marsch, und da war Beethoven nicht immer nur das vielzitierte Vorbild, sondern das Eigene, Unverwechselbare wurde klar herausgearbeitet und erschien plötzlich modern, gar revolutionär.

Die bei Schubert so wichtigen Posaunen sorgten hier etwa für eine warme Grundierung; Phrasierungen und Übergänge blieben bei aller Genauigkeit im musikalisch natürlich schwingenden Charakter. Bei solch einer überragenden Ausgestaltung war faszinierend zu beobachten, wie flexibel alle Orchestergruppen diesen Ideen folgten, und das Ergebnis war ein neuer, schlanker und sehr überzeugender Schubert-Klang.

Romantik pur in Radebeul

Parry, Schumann und Brahms im 2. Philharmonischen Konzert der Elblandphilharmonie

Als der junge Cellist Isang Enders noch vor ein paar Jahren als Solocellist der Sächsischen Staatskapelle Dresden tätig war, fühlte man als Zuhörer bereits, dass da ein besonders intelligenter, hochmusikalischer Geist am Instrument saß - Kammermusiken und Soloauftritte bestätigten diesen Eindruck. Nun hat sich Enders als Solist beeindruckend entwickelt, seine Einspielung der Bach-Suiten etwa ist hochgelobt und der Cellist spielt weltweit mit bedeutenden Orchestern und Kammermusikpartnern. Um so glücklicher darf man sich schätzen, dass Enders gerne in sächsische Gefilde zurückkehrt und aktuelle Erkundungen im Solokonzert vorstellt.

Bei der Elblandphilharmonie Sachsen war er zuletzt 2013 mit Edward Elgars Cellokonzert zu hören, im 2. Philharmonischen Konzert der laufenden Saison interpretierte er am Mittwoch im Stammhaus der Landesbühnen Sachsen das Cellokonzert a-Moll von Robert Schumann. Passend eingebettet in ein sinfonisches Programm mit Hubert Parry und Johannes Brahms geriet das Solokonzert zum Höhepunkt des Abends. Keineswegs ist die Hochromantik der Musik ein unproblematischer Fall, fliegen einem die Melodien nur so zu und fällt das Zurücklehnen leicht.

Romantik, das zeigt dieses Spätwerk von Schumann exemplarisch, bedeutet auch Ringen um Ausdruck und Form und ein am Gemüt und der Seelenlage des Schöpfers ausgerichtetes Kunstwerk beständig neu zu erfinden. Diese Gemengelage war bei Enders in besten Händen aufgehoben, denn gerade die Kontraste zwischen Melancholie und Temperament, zwischen Lyrik und elegischer Aufwallung gerieten vortrefflich. In allen drei Sätzen wusste der Cellist zwischen kontrollierter Phrasierung und freiem, beseelten Spiel nicht nur sauber zu unterscheiden, er brachte den stets neu auszufechtenden innermusikalischen Konflikt auch deutlich zur Geltung. So konnte man sich auch der Einmaligkeit der Interpretation und damit der Betonung des - immer flüchtigen - musikalischen Augenblicks sicher sein. Die Elblandphilharmonie begleitete mit GMD Christian Voß am Pult sicher und auf Enders Impulse gut reagierend.

Brahms bildete den Rahmen: Hubert Parrys 1897 entstandene "Elegy for Brahms" als Hommage an den im gleichen Jahr verstorbenen Komponisten ist keine pure Trauermusik, sondern eher ein raffiniert instrumentierter sinfonischer Satz, in dem Parry eine zwischen Brahms und Strauss changierende, aparte Klangwelt entwirft - für viele britische Zeitgenossen wurde Parry bald zur Leitfigur. Diese einleitende Musik gestaltete Voß mit Hingabe und das Orchester folgte mit warmer, gedeckter Klangfarbe. Die 3. Sinfonie F-Dur, Opus 90 von Johannes Brahms bildete den Abschluss des im Programm sehr stimmigen Konzertes. Christian Voß manchmal etwas zu behagliche Leitung des Klangkörpers verführte diesen in den ersten beiden Sätzen trotz vieler schöner Momente in den Bläsern und der klangschön und selbstbewusst musizierten Einleitung zu einer gewissen Trägheit. Auch dem 4. Satz hätte ein mutigerer, befreiender Drang zum Vorwärtsmusizieren gutgetan, doch Voß besann sich insgesamt mehr auf Details und genaues, schönes Ausmusizieren der reichen Melodik. Damit behielt diese Sinfonie stets ihren besonderen, lyrischen Charakter, in der Bandbreite des Ausdrucks wäre jedoch mehr zu entdecken gewesen.

Donnerstag, 19. November 2015

Keimende Zukunft und traditionelle Gesänge

Musikprojekt "Mekomot - Orte" gastierte mit Uraufführungen in der Neuen Synagoge Dresden

Ein außergewöhnliches Musikprojekt befindet sich seit Anfang Oktober auf einer Reise durch Mitteleuropa: "Orte - Mekomot" erkundet ehemalige und neue Synagogen in Deutschland und Polen und möchte diese Orte nicht nur in Erinnerung rufen, sondern sie auch mit neuer Musik erschließen, die eigens für das Projekt von fünf jüdischen Komponisten geschrieben wurde. Beziehungsreich und ungewöhnlich ist dieser Zugang, der aber für Besucher und Zuhörer viele Türen öffnet: zur jüdischen Kultur allgemein, zur Auseinandersetzung mit Tradition und Gegenwart, mit Sprache, Gottesdienstgebräuchen und vielem mehr.

Am Dienstag traf "Mekomot" zu seinem bereits dritten Konzert in der Dresdner Synagoge ein. Dieses Haus ist eine der wenigen neu gebauten und aktiven Synagogen in Deutschland, an anderen Orten sind die 1938 in der Pogromnacht zerstörten Gebäude anderen Nutzungen zugeführt worden oder bestehen als Mahn- und Gedenkmal und Begegnungsstätte. Eingebettet in die 19. Jüdische Woche Dresden fanden sich viele interessierte Zuhörer ein, die diese Inklangsetzung des Gottesdienstraumes miterlebten. Da alle Werke exklusiv für das Projekt entstanden und zudem ein Kantor (Assaf Levitin - der in beeindruckender Weise auch umfangreiche Gesangsaufgaben in den neuen Stücken bewältigte) mit dem Nachmittagsgebet "Minchah" im Synagogalgesang die Stücke einrahmte, entstand trotz der unterschiedlichen Handschriften ein gemeinsamer, intensiver Ausdruck.

Eine internationale Schar hervorragender Musiker hatte sich zusammengefunden, das Instrumentalensemble selbst war an den schon in der Bibel erwähnten Instrumenten ausgerichtet. Dies schuf einen spannenden Klangraum einer Archaik, die zeitenumspannend in ihrer großen Achtung der kulturellen Wurzeln erschien. Gleichzeitig werden die Musiker auf ihrer "Mekomot"-Reise viele unterschiedliche Räumlichkeiten erfahren und die - gleichen - Stücke so auch jedes Mal anders interpretiert werden und widerhallen. Bnaya Halperin-Kaddaris "El" setzte sich zu Beginn mit den Namen Gottes auseinander, drei Widderhörner (Schofar) formten den Nachhall dieser litaneiartigen Anrufung. Eres Holz beschäftigte sich mit dem Kaddisch-Gebet und setzte dem die Fassung des Amerikaners Allen Ginsberg gegenüber - Trauer als Grundzustand brach sich hier in einer nur als - authentische - Zumutung empfindbaren Klangeruption Bahn und ließ den Zuhörer einigermaßen atemlos zurück. Einen völlig anderen Zugang wählte Amit Gilutz, der den vierten Satz aus der 3. Sinfonie von Gustav Mahler Angela Merkels umstrittenen Äußerungen bei der Begegnung mit einem Palästinenserkind in Rostock im Juli 2015 unterlegte. "O Mensch gib acht!" contra "Politik ist manchmal hart" - dieser kompositorisch absichtsvolle Auffahrunfall war gelungen.

Amir Shpilman steuerte dann eine sinnliche Komponente mit "Resisim" bei, Zerbrochenes und Fragmentarisches in der Komposition wies in unterschiedlicher Beleuchtung des Gegenstandes eben auch auf Reste, auf "Verwertbares" oder neues Wachstum hin. Schließlich äußerte sich Sarah Nemtsov, gleichzeitig künstlerische Leiterin des Projektes, in einer Auseinandersetzung mit dem "Ashrei"-Gebet, einer Lobpreisung, die aber hier in rhythmisch entfesselter Art gebrochen erscheint. Das Stück war ein Lebenstanz, der für eine wechselvolle jüdische Geschichte ebenso stehen mag, wie für die Hoffnung, aus dem Neuen und Neuartigen Zukunft keimen zu lassen.


http://www.mekomot.de

Tiefgründiges "Happy Birthday"

Geburtstagskonzert des Dresdner Streichtrios im 2. Kammerabend der Staatskapelle Dresden

Als Musikstudent findet man schnell heraus, wer in seinem Studienjahr gerade ähnlich "tickt" und wer am Notenpult nebenan der musikalisch interessanteste Partner ist - daraus bilden sich oft vielversprechende Kammermusikformationen. Zu oft verstreut man sich jedoch dann in alle Winde, hat der Zauber des Beginns selten Bestand. Ob die drei jungen Musiker des Dresdner Streichtrios sich bei den ersten Konzerten 1995 vorgestellt haben, wie es wohl in 20 Jahren sein wird? Jörg Faßmann (Violine), Sebastian Herberg (Viola) und Michael Pfaender (Cello), schon 1995 in Solistenpositionen bei der Staatskapelle Dresden und beim MDR Sinfonieorchester tätig, hatten damals die Idee, die Gattung des Streichtrios mit ihrem gemeinsamen Spiel wiederzubeleben - und sie hatten einen langen und inspirativen Atem, der bis heute und hoffentlich noch weitere Jahre reicht.

So bildete das 2. Kammerkonzert der Staatskapelle Dresden einen würdigen Rahmen für das Geburtstagskonzert des Dresdner Streichtrios, mit dem die Musiker sich und die Zuhörer beschenkten. Statt einem opulent-partywürdigem Spektakel standen lediglich zwei Werke von Alfred Schnittke und Wolfgang Amadeus Mozart auf dem Programm, die aber sinnbildlich für den Charakter des Ensembles stehen und jedes für sich ohne Zweifel meisterlich zu nennen sind. Zwar war der Bezug auch gerade in Schnittkes 1985 entstandenen Streichtrio durch die Verarbeitung der Melodie von "Happy Birthday" gegeben, aber eine tiefgründigere, zuweilen auch dramatischere Würdigung eines Geburtstages ist kaum denkbar, ist doch dieses Werk in seiner Zerrissenheit zwischen Tradition und Gegenwart, zwischen Persönlichkeit und etwas, was als "common sense" vielleicht kulturelles Gemeingut darstellt, ein Dokument einer auch verzweifelten Suche nach Identität.

Das Dresdner Streichtrio brach hier mit den ersten Tönen eine Distanz zum Werk auf, schaffte es gar, dass man den großen Raum der Semperoper für Momente vergaß, weil man über die fragilen Linien sehr nah an den Kern der Musik vorgelassen wurde. So konnte sich sowohl die schubertsche Verlorenheit des 2. Satzes entfalten wie auch die plötzlichen, ebenso herausbrechenden wie versiegenden Höhepunkte: kurze Eruptionen, die im Brachialwalzer alles vom Tisch fegten, was mühevoll bis zu diesem Punkt erdacht wurde. Diese "Gratulation", die gleichzeitig ein starkes Statement für die faszinierende Musik des seit seinem Tod 1998 merkwürdigerweise von den Konzertplänen fast verschwundenen Schnittke war, beeindruckte sehr und hinterließ Interpreten wie Zuhörer bewegt in die Pause.

Dass auch monetäre Spannungszustände bei Künstlern oftmals besondere Werke hervorriefen, dafür gibt das Divertimento Es-Dur KV 563 von Wolfgang Amadeus Mozart ein Beispiel. Es ist ein Gipfelpunkt seiner Kammermusik, in welchem der Komponist in allen sechs Sätzen Reife und Persönlichkeit, aber eben auch die Fähigkeit zu genussvoller Unterhaltung demonstrierte - um letztlich seine Gönner zu überzeugen. Wenn bei Schnittke die Reife der Interpretation im stetigen Nachvollzug der zerklüfteten Partitur bestand, war es hier die ausufernde, aber niemals ins Parlieren geratende Leichtigkeit der Musik - mit deutlichem Schwerpunkt etwa auf den mit kaum Vibrato etwas entrückt vorgetragenen Moll-Variation des Andante oder der Dur-Spielfreudigkeit der Ecksätze.

Die besondere Klanglichkeit des Dresdner Streichtrios war an diesem Abend viel mehr als die Summe des individuellen Könnens - das Aufgehen in der gemeinsamen Sache erzeugt schlicht einmalige musikalische Erlebnisse. Statt Blumen gab es am Ende Johann Sebastian Bach - die Aria aus den "Goldberg-Variationen" war als Zugabe ein überaus klangschöner, beruhigender Ausklang.
(3.11.2015)

Donnerstag, 5. November 2015

Erlebnis Raumklang und Poesie

José María Sánchez-Verdú ist Composer-in-Residence der Dresdner Philharmonie

In Dresden ist der spanische Komponist José María Sánchez-Verdú (*1968) noch weitgehend unbekannt, bisherige Aufführungen seiner Werke hier sind nicht verzeichnet. Um so mehr ist man gespannt auf seine Musik, seit die Dresdner Philharmonie bekanntgegeben hat, dass der Künstler composer in residence der Saison 2015/2016 sein wird. In dieser Woche besucht der Komponist anlässlich der ersten Philharmonie-Aufführung am 7. November Dresden - und er nutzt diesen Besuch, um sich auch an der Musikhochschule Dresden vorzustellen: in Kooperation mit dem KlangNetz Dresden arbeitet er mit Kompositionsstudenten, ist Gast eines Workshops an der Hochschule und die Studenten werden ein Konzert mit Kammermusik von Sánchez-Verdú am Mittwochabend im Konzertsaal der Hochschule ausgestalten.

Der Komponist, der in Madrid und Frankfurt studiert hat und heute in Spanien und Deutschland lebt und lehrt, freut sich besonders auf seine Residenz in Dresden: "Kreative Projekte mit der Dresdner Philharmonie zu entwickeln ist für mich eine große Ehre. Die Arbeit verspricht eine sehr spannende Erfahrung zu werden, denn als Künstler versuche ich immer, eine musikalische Verbindung zwischen der Tradition und dem Neuen und Unbekannten herzustellen. Das ist ein Abenteuer, das uns gemeinsam in unerwartete poetische Sphären bringen wird." - Am Sonnabend steht die Deutsche Erstaufführung von Sánchez-Verdús "Libro del frío" (Buch der Kälte) auf Texte des spanischen Dichters Antonio Gamoneda (*1931) an, Simone Young wird die Aufführung leiten, Solist ist der spanische Countertenor Carlos Mena.

Das 2008 entstandene, etwa dreiviertelstündige Stück kann als Lied-Kantate beschrieben werden, doch der Komponist, dessen Interesse in der Vergangenheit vor allem musikalischen und szenischen Projekten mit Licht- und Raumdramaturgien galt, hebt noch weitere Ebenen der Komposition hervor: "Die Interaktion zwischen Raum, Musik, Akustik und Poesie (Stimme) sind Hauptbestandteile des "Libro del Frío", das für Countertenor, Orgel und 5 Orchestergruppen im Raum verteilt komponiert ist. Es ist ein musikalisches Experiment, den Raum, die Akustik und die poetischen Inhalte der Gedichte von Antonio Gamoneda (1931) zu erfahren." - So gibt sich die Frauenkirche, in der das "Libro del Frío" aufgeführt wird, als ein sehr passender Ort für das Werk - die Uraufführung fand in der Kathedrale von Léon in Spanien statt. Der Raumklang wird hier zu einer neuen Inschrift des Gedichtes werden und den Wortklang, den Nachhall und die Atmosphäre des Textes vervielfachen und spiegeln. Das Interdisziplinäre und das Erforschen neuer Ebenen mittels der Verbindung des bereits (scheinbar) Bekannten scheint ein roter Faden in Sánchez-Verdús OEuvre zu sein: "Immer mehr bilden Raum und Architektur, zusammen mit Geometrie, Abstraktion und gleichzeitig Energie und Tiefe die Hauptlinien meiner Arbeit. Eigentlich finde ich keinen Unterschied in der tieferen Substanz von Poesie, Musik, Malerei und Architektur."

Am Pulsschlag der Rezitation also wird sich das "Libro del Frío" verorten lassen und mit der Aufführung in Dresden einen neuen Ort erkunden. Mit der Dresdner Philharmonie sind noch zwei weitere, ganz neue Werke geplant, die Basis eines Diptychons (Doppelbildes) sein werden - die Titel KEMET "Schwarze Erde" und DESHERET "Rote Erde" weisen bereits darauf hin, aber auch auf die Beschäftigung des Komponisten mit arabischen und altägyptischen Kulturen. Diese Stücke werden von der Dresdner Philharmonie dann im Juni 2016 uraufgeführt.


José María Sánchez-Verdú in Dresden
Mittwoch, 4.11., 11.15 Hochschule für Musik, Kompositionsworkshop Raum W4.07

Mittwoch, 4.11., 19.30 Gesprächskonzert im Konzertsaal der Hochschule für Musik
10. Streichquartett "Barzaj", Hekkan I + II, Arquitecturas del límite
Studenten der Hochschule für Musik, Ltg. Jura Kravets, Moderation: Jörn Peter Hiekel

Sonnabend, 7.11., 20 Uhr Frauenkirche, "Libro del Frío"
Dresdner Philharmonie, Carlos Mena, Leitung: Simone Young

3. und 4.6.2016, Schlosskapelle "KEMET - Schwarze Erde" (UA), Dresdner Philharmonie, Leitung Andreas Spering

18. und 19.6.2016, Albertinum "DESHERET - Rote Erde" (UA), Dresdner Philharmonie, Leitung Michael Sanderling

Messerscharf und im Kern erfasst

Alan Gilbert und Frank Peter Zimmermann begeistern im 3. Kapellkonzert

Ganze sechs Jahre hat es gedauert, bis das Dresdner Publikum am Wochenende den amtierenden Chefdirigenten der New Yorker Philharmoniker, einem der besten Orchester der Welt, zum Debut bei der Sächsischen Staatskapelle Dresden erleben durfte. Sicher waren die Terminkalender da im Spiel und die Wunschliste der Kapelle läßt sich bei den begrenzten Möglichkeiten der Sinfoniekonzerte nur langsam abarbeiten. Ganz unbekannt ist Gilbert indes in Dresden nicht, er gastierte mit seinem Orchester bereits zweimal zu den Musikfestspielen. Im 3. Sinfoniekonzert widmete er sich zunächst einer Komposition des aktuellen Capell-Compositeurs György Kurtág.

Ähnlich wie kürzlich im Aufführungsabend machte sich hier bemerkbar, dass die Wirkung dieser oft kaum zehnminütigen, aphoristischen Stücke angesichts der anschließenden Umbaupausen und einem folgenden sinfonischen Kontrastprogramm von ungleich größerer zeitlicher Gewichtung problematisch ist. Kurtág hilft dem Zuhörer da nicht - die Momentaufnahme gilt, und wer da noch nicht mit der Konzentration dabei ist, hat verloren.

Nicht ganz optimal gelang die Anordnung der Orchestergruppen von "Grabstein für Stephan" an verschiedenen Plätzen in den Rängen der Semperoper, ein wirklicher Raumklang stellte sich nicht ein. Dem Stück hätte ein deutlicher Wille zur Langsamkeit gutgetan - Gilbert setzte mehr auf Puls denn auf Meditation, und daher standen die einleitenden Gitarrenakkorde (Uwe Fink) eher verloren im Raum, als dass sie sich eindringlich entfalten durften. Trotzdem stellte sich vor allem durch die klangfarblich sensible Arbeit im Orchester nach einem explosiven Ausdruck des (Todes-)Entsetzens bald eine spannende, melancholisch-nachsinnende Aura ein.

In interessanter Nachbarschaft stand 2. Violinkonzert von Dmitri Schostakowitsch - dieses Spätwerk ist ein wenig der ungeliebte Bruder des so erfolgreichen 1. Konzertes, und doch ist es ein phänomenales Stück in seiner kargen, durchweg intensiven Klangsprache, die keinerlei Pomp und Äußerlichkeiten heranzieht. Dafür braucht es einen besonderen Solisten und kein besserer konnte gefunden sein als Frank Peter Zimmermann, dessen Blick auf die Noten von Anfang an verriet, dass hier ein unumkehrbarer, existenzieller Weg bis zum letzten Takt beschritten werden würde. So gab sich auch sein Spiel: mit unglaublich intensiver Steigerung im ersten, fahl-einsamem Gesang im zweiten und einer willensstarken, prägnanten Gestaltung im dritten. Das mahnte fast an die Oistrachsche Kultur der Unnachgiebigkeit des musikalischen Flusses und führte auch im von Gilbert aufmerksam bedachten Orchester zu einem Nachvollzug, der begeisterte.

Weil jede noch so kurze Phrase, jeder Einwurf und Dialog mit dem Orchester von Zimmermann und Gilbert im Kern erfasst waren, gelang eine Interpretation mit Höchstspannung, die vom Publikum bejubelt und von Frank Peter Zimmermann mit einer messerscharfen Bach-Zugabe beantwortet wurde. Mit Peter Tschaikowskys 4. Sinfonie f-Moll stand nach der Pause ein im Ausdruck insgesamt lichteres, wenngleich nicht weniger dramatisches Werk an. Alan Gilbert stellte das Stück vor allem als mitreißendes Meisterwerk heraus, indem er ein tolles Timing für die Tempoentwicklung in allen Sätzen zeigte. Ohne Stab und auswendig formte er mit den Händen immer wieder flexibel und mit viel Kontakt zu den einzelnen Musikern, was er hören wollte - besonders weiche kantable Linien und ein exakter, impulsgenauer Zugriff im Tutti waren die Folge. Gilberts spielfreudige Lesart verleitete die Kapelle zu Höchstleistungen, und im neuen Konzertzimmer der Oper gab es keinerlei Probleme, auch beim größten fortissimo im vierten Satz strahlenden Klang hervorzurufen: Debut gelungen, baldige Wiederkehr erhofft!

Samstag, 24. Oktober 2015

Blick nach Rumänien

Uraufführungen von Doina Rotaru und Violeta Dinescu im Sinfonietta-Konzert

Bei der Fülle an Musik auf dieser Welt erscheint es seltsam, dass sich in den Konzertsälen ein Kanon mitteleuropäischer Musik herausgebildet hat, bei dem nur selten - und dann meist mit dem wörtlich zu nehmenden Begriff des Außergewöhnlichen einhergehend - Grenzen gesprengt und Horizonte erweitert werden. Für das Ensemble Sinfonietta Dresden ist das Besondere selbstverständlich - seit Jahren erkunden die Musiker nicht nur die zeitgenössische Musik in unserer direkten Umgebung, sondern widmen sich auch den musikalischen Landschaften in Osteuropa. Innerhalb der Reihe KlangNetz-Konzertreihe "An die Freunde" kam es am Donnerstagabend in Kooperation mit dem Deutschen Hygiene-Museum zu einer intensiven Begegnung mit der Musik in Rumänien.

Sinfonietta Dresden beschränkte sich nicht auf die bloße musikalische Darbietung - die beiden rumänischen Komponistinnen Doina Rotaru und Violeta Dinescu steuerten je eine Uraufführung bei und standen auch vor und nach dem Konzert zum Gespräch zur Verfügung - dazu lud Dirigentin Judith Kubitz am Ende des Konzertes zu rumänischem Rebensaft ein. Das war am Ende eine willkommene Abrundung eines musikalischen Abends, der sich auch musikalisch vollmundig und apart gab: George Enescus in seiner radikalen Einstimmigkeit einzigartiges "Prélude à l'unisson" aus dessen 1902 entstandener 1. Orchestersuite rahmte das Konzert, im Mittelpunkt stand Debussys berühmtes "Prélude à l'après-midi d'un faune" (1894) - Stücke, die für die beiden rumänischen Komponistinnen, die derselben Generation angehören, einen besondere Rolle in ihrem Schaffen spielen.

Doina Rotaru (*1951) lebt noch heute in Bukarest, während Violeta Dinescu (*1953) in den 80-er Jahren nach Deutschland übersiedelte. Was alle Kompositionen einte, war eine faszinierende Farbigkeit und Sinnlichkeit im Umgang mit sehr verschiedenen Orchesterbesetzungen - von der aus Bautzen stammenden Dirigentin Judith Kubitz wurde das höchst sorgfältig und mit viel Lebendigkeit zu überzeugendem Klangcharakter angeleitet. Doina Rotarus Ensemblestück "Centrifuga" etwa verlor auf diese Weise nie den leichten, spielerischen Charakter im Umgang mit Geschwindigkeiten und rotierenden Rhythmen.

Violeta Dinescus "Akrostichon" hingegen bildete sofort einen Kontrast in einer fast episch zu verstehenden, zerklüfteten und auch zeitlich gedehnten Klanglandschaft, deren Zusammenhang sich schwieriger erschloss. Stetig sah man sich mit neuen Tongebirgen konfrontiert, in der die phantasievoll auskomponierte Klangfläche dominierte. Wiederum erfrischend anders gab sich Dinescus Filmmusiksuite zu Friedrich Wilhelm Murnaus "Tabu" als Beweis, dass sich zeitgenössisches Musikdenken und eine handwerklich sauber zu absolvierende Begleitmusik nicht ausschließen. Im an Höhepunkten reichen Konzertabend war das in seinen Zeitmaßen sehr kompakt komponierte Klarinettenkonzert von Doina Rotaru "Fragile II" eindrucksvoll in einer stark emotionalen Interpretation, die vom Solisten Emil Visenescu ausging und sich sofort auf das feinsinnig musizierende Ensemble übertrug.

Danach hatte es Enescus wiederholtes "Prélude" leicht und klang plötzlich ganz anders als bei der ersten Runde: Was zu Beginn noch neu und fremd war, klang auf den gleichen Saiten gespielt anderthalb Stunden später viel vertrauter. Man hatte Freundschaft geschlossen mit der erfindungsreichen, den Melos und die eigene Tradition nie vergessenden rumänischen Musikkultur.

Musik bewahren und zugänglich machen

Das Deutsche Komponistenarchiv in Hellerau wird zehn Jahre alt

"Meine Zeit wird kommen." formulierte Gustav Mahler einst und er hatte Recht behalten. Ob sich Mahler beim Verfassen dieses Satzes in einem Brief an seine Frau Alma darüber Gedanken gemacht hat, was mit seinen vielen Noten und Skizzen, Briefen und Entwürfen einst geschehen wird? Er dürfte Glück gehabt haben - das Zusammenspiel von Verlagen, Archiven und Bibliotheken ermöglicht heute den tiefen Einblick in sein Musikdenken. Doch nicht jeder Fall ist so einfach: oft landen Nachlässe auf Dachböden, hat sich der Komponist selbst gar nicht zu Lebzeiten um seine kiloschweren Partituren gekümmert und eine Aufbereitung fällt erst recht schwer, wenn Rechte, Erben und ein in alle Welt verstreutes Material zu berücksichtigen sind.

Den Handlungsbedarf für die Gründung eines Deutschen Musikarchives sah Komponist Harald Banter, Mitglied des GEMA-Aufsichtsrates, als er selbst Materialien seines Freundes Georg Haentzschel, einem der großen Komponisten im UFA-Filmgeschäft in den 30er- und 40er-Jahren, erhielt. Es sollte ein Archiv entstehen, das allen bedeutenden deutschen Komponisten offensteht, gleich in welchem Genre sie tätig waren oder sind. Das Deutsche Komponistenarchiv wurde 2005 mit Förderung der GEMA-Stiftung gegründet - und befindet sich in institutionell fester Eingliederung im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau in Dresden. Wenn jetzt das zehnjährige Bestehen gefeiert wird, ist der Blick auf die vergangene Zeit relativ zu sehen, denn ein solches Archiv, das in der Bewahrung der Komponistennachlässe sozusagen eine Art musikalisches Gedächtnis bildet, hat natürlich immer die Ewigkeit im Blick.

Danach richtet sich auch die professionelle Ausrichtung, die in Hellerau verfolgt wird, denn die Handschriften und Noten sollen natürlich auch in ferner Zukunft noch verfügbar sein. Um die Aufnahme, Archivierung und Pflege kümmert sich die Leiterin des Archivs, Julia Landsberg. Vor Ort nimmt sie Wünsche der Einsicht in die Manuskripte, Tonträger, Rezensionen und Korrespondenzen entgegen - es stehen auch kontinuierlich zu übergebende, künftige Nachlässe auf der Warteliste. Das Interesse wiederum wächst mit der Bedeutung des Archivs, das aber schon jetzt wichtige Anlaufadresse für Musikwissenschaftler, Biografen oder Dirigenten ist: Nachlässe von über 30 Komponisten lagern im Archiv, darunter Filmmusikkomponisten wie Hans-Martin Majewski ("Menschen im Hotel") oder Rolf Alexander Wilhelm, der die Musik zu Filmen von Loriot schrieb. Der erst kürzlich verstorbene, im Osten berühmte Musical-Komponist Gerd Natschinski übereignete seine Kompositionen dem Archiv ebenso wie der Geiger Helmut Zacharias oder die Komponisten Ernest Sauter und Karl-Gottfried Brunotte.

Am heutigen Montag wird in Hellerau gefeiert: in der Festveranstaltung zum Zehnjährigen Bestehen wird nicht nur in Beständen gestöbert und die Bedeutung des Archivs gewürdigt, sondern es werden auch Werke von Ernest Sauter, Karl-Gottfried Brunotte, Norbert Schultze und Gerd Natschinski erklingen - so erfüllt das Deutsche Komponistenarchiv an diesem Abend eines seiner wesentlichen Ziele: die Musik zu bewahren, und sie wieder zum Klingen und damit in die Erinnerung zu bringen.
(19.10.2015)

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