Rezensionen

Sonntag, 30. August 2015

Brennen für Beethoven

Gala-Konzert mit überraschendem Finale beim Moritzburg Festival

Mit einem "Gala-Konzert mit anschließendem Dinner" wartete das Moritzburg Festival am Freitagabend auf. Nimmt man Gala wörtlich, so definiert man damit eine besonders festliche Veranstaltung, einen Höhepunkt des Festivals gar? Doch vermutlich musste nur für das für normalsterbliche Besucher im Preis unerschwingliche Gesamtpaket aus Konzert und Exklusiv-Dinner ein Name gefunden werden. Die Programmauswahl rechtfertigte den Titel nicht unbedingt, wenngleich man dem Festival insgesamt mühelos das Flair des Festlichen bescheinigen kann.

Da alle Gäste noch ein 4-Gänge-Menü zu absolvieren hatten, beließ man es im Konzert bei drei kompakten Gängen ohne Pause - etwas mehr als eine gute Stunde Musik kam da zusammen. Wirklich festlich waren die zu Beginn vorgestellten "Quatre Petite Pièces" von Charles Koechlin (1867-1950) auch nicht gedacht. Einerseits war man froh, dass der unkonventionelle französische Tonsetzer endlich mal wieder in einem Konzertprogramm auftauchte, doch diese kleinen Stücke sind eher klassische Studien - wenn der Reiz der aparten Besetzung Violine, Horn und Klavier sich gerade einmal entfaltete, war das Stück auch schon zu Ende. Mira Wang (Violine), Felix Klieser (Horn) und Alessio Bax (Klavier) zeigten dabei vor allem mit gedeckten, warmen Klangfarben, dass auch eine Miniatur erfreuen kann - der Komponist hingegen sollte nicht an diesen Stücken gemessen werden, da gibt es noch ganz andere Diamanten zu entdecken.

Jan Vogler und Janne Saksala gaben sich dann dem Duo D-Dur für Cello und Kontrabass von Gioachino Rossini hin, wobei Hingebung die Musizierweise der beiden wohl treffend beschreibt: die leichtfüßige Virtuosität und der buffoneske Humor wurde schön herausgearbeitet, wobei der Belcanto im tief(st)en Register ebensowenig zu kurz kam wie die bassige Koloratur. Beide spielten Rossini mit großer Geste, und hier ist diese auch angebracht und führt nicht zur Karikatur, sondern zu zwingender Lebendigkeit.

Robert Chen, Annabelle Meare, Lawrence Power, Yura Lee und Guy Johnston fanden sich zum Konzertabschluss im Quintett zusammen und widmeten sich dem Streichquintett C-Dur, Opus 29 von Ludwig van Beethoven in einer solch anspruchsvollen Spielkultur, dass man erschrocken und bewegt auf der Stuhlvorderkante saß. Beethoven kann ja einen Zuhörer furchtbar kalt lassen, wenn die Interpretation die Nervenstränge des Werkes nur partiell erreicht. Hier war aber von den ersten Tönen an klar, dass tiefes Eindringen und extreme Auslotung der Charaktere zur gemeinsamen Sache gehörte. So formten sich schon im ersten Satz homogene Klangfarben und ein atmendes Spiel, bei welchem alle fünf Musiker sich gegenseitig genug Raum gaben, um die zahlreichen Parallelstraßen, Sackgassen und auch findige Abkürzungen der Partiturreise mühelos darzustellen. Ob diese "brennende" Aufführung dafür verantwortlich war, dass kurz nach Verklingen der letzten Töne tatsächlich die Feuerwehr im Moritzburger Schloss anrücken musste, wird wohl nicht gelöst werden. Unversehrt konnten die Besucher nach einem kurzen Aufenthalt an der frischen Abendluft - fachmännisch Evakuierung benannt - dann aber vom musikalischen zum kulinarischen Menü überwechseln.
(23.8.2015)

Beethoven-Krimi und flotter Mozart

Eröffnungskonzert des Moritzburg Festivals mit dem Akademie-Orchester

Traditionell öffnet das Moritzburg Festival nicht vor den Toren Dresdens seine Pforten, sondern mitten in der Stadt - mit einem Orchesterkonzert in der VW-Manufaktur. Hier stellt sich die Moritzburg Festival Akademie vor, ein Ensemble aus rund 40 jungen Musikern, die eigens jedes Jahr ausgewählt werden, um mit den renommierten Solisten des Festivals und einem Dirigenten Orchester- und Kammermusikliteratur zu erarbeiten. Insofern erreichte das Festival schon zu Beginn einen ersten Abschluss, denn diesem Konzert ging bereits eine intensive Probenwoche voraus.

Der diesjährige Schirmherr, Bundestagspräsident Norbert Lammert, Innenminister und Kuratoriumsvorsitzender Thomas de Maizière und der musikalische Leiter Jan Vogler freuten sich auf den neuen Festival-Jahrgang, in dem bis zum 30. August über ein Dutzend Konzerte stattfinden werden. Bei der Eröffnung zeigte sich also möglicherweise die kommende Generation großer Kammermusiksolisten, und was diese in einem ad hoc zusammengestellten Orchester unter den nicht einfachen Bedingungen des Manufakturraumes leisteten, war beachtlich.

Eine schöne Homogenität war gleich in der einleitenden Suite "Le Tombeau de Couperin" von Maurice Ravel festzustellen, in der sich delikat vor allem die zahlreichen Linien entfalteten, die Ravel der Oboe geschenkt hat. In diesem Jahr ist der in Wien lebende Fagottist und Dirigent Milan Turković mit der Leitung des Orchesters betraut, er sorgte für einen lebendigen Fluss des Werkes und zahlreiche Nuancen dynamischer Art traten zu Tage, die den über dem Boden schwebenden Charakter des Werkes intensivierten.

Zum Höhepunkt des Abends geriet das Solokonzert mit der französischen Pianistin Lise de la Salle. Sie ist erneut zu Gast beim Festival und wird in der kommenden Woche auch in Kammermusikwerken am Klavier mitwirken. Im Eröffnungskonzert widmete sie sich dem 4. Klavierkonzert G-Dur von Ludwig van Beethoven. Sie sorgte dafür, dass in allen drei Sätzen Höchstspannung auf der Bühne wie im Publikum herrschte, denn die Klarheit ihrer Artikulation gepaart mit Leidenschaft und einem in den Ecksätzen toll geführten metrischen Puls machte das Konzert fast zu einem Krimi. Jede einzelne Phrase wurde da zum Ereignis, de la Salle gestaltete klug und verdeutlichte harmonische und dynamische Entwicklungen besonders plastisch. Stark wirkte im 2. Satz der Dialog mit dem in schroffem Kontrast hereinfahrenden Orchester, und die Kadenz des 1. Satzes gelang Lise de la Salle überzeugend und in selbstbewusster, erdiger Manier. Trotz der wohl aus technischen Gründen ungewöhnlichen Platzierung des Flügels zwischen Celli und Bratschen, die dazu führte, dass Turković nur den Rücken der Pianistin sah, gelang die Zwiesprache mit dem Orchester sehr gut, ein Zeichen also, dass alle Musiker permanent in höchster Aufmerksamkeit agierten.

Die letzte, die so genannte "Jupiter"-Sinfonie C-Dur, KV 551von Wolfgang Amadeus Mozart beschloss den Abend - Milan Turković setzte dabei auf flüssige Tempi, die im zweiten und vierten Satz zwar dazu führten, dass viele Dinge zusammengefasst erschienen und manche Feinheiten und Flexibilitäten gerade im Andante Cantabile erhielten so weniger Raum. Die Akademie setzte diese Intentionen mühelos um, besonders das Finale schlug trotz rasant auszuführender Figuren nie in Hektik um - da war großes Können und Lust an der gemeinsamen Sache zu beobachten. Davon werden wir in den kommenden zwei Wochen in Moritzburg sicher noch mehr erleben.
(17.8.2015)

Orchesterwerkstatt "con brio"

Moritzburg Festival Akademie stellte sich in den Flugzeugwerken vor

Wenn das Moritzburg Festival am Sonntag mit dem Eröffnungskonzert in der VW-Manufaktur beginnt, dann haben die Teilnehmer der Festival-Akademie bereits eine ganze Woche harte Arbeit absolviert. Die 39 jungen Akademisten aus aller Welt bringen sich dann im Orchesterspiel, auf Tourneekonzerten und mit Kammermusiken unter anderem bei der "Langen Nacht der Kammermusik" am kommenden Donnerstag ein. Den Zuhörern wurde mit der Orchesterwerkstatt am Sonnabend also nicht nur eine Art Prolog zum Festival präsentiert, man erhielt auch interessante Einblicke hinter die Kulissen.

Der künstlerische Leiter Jan Vogler moderierte die Werkstatt im Flugzeughangar bei den Elbe-Flugzeugwerken - eine imposante Umgebung, die ebenfalls Arbeitsatmosphäre ausstrahlte und somit perfekt geeignet schien. Weniger ging es um ein perfektes Ergebnis, dafür nahm man auch Abstriche in der Akustik in Kauf, eher um einige kurzweilige Einblicke: Musik und Menschen standen im Vordergrund. Jan Vogler unterhielt sich mit zwei Akademisten, einer Geigerin aus Texas und einer Fagottistin aus Österreich, die sichtlich begeistert von ihren Erfahrungen berichteten. In diesem Jahr ist der Fagottist und Dirigent Milan Turković musikalischer Leiter der Akademie und berichtete von der außergewöhnlichen Erfahrung, binnen einer Woche die unterschiedlichen Nationen und Kulturen, aber auch Spieltalente zu einem homogenen Ensemble zusammenzuschweißen. Dass dies noch vor der Eröffnung - aber bereits nach einem absolvierten Tour-Konzert in Bad Elster - gelungen ist, davon konnten sich die Zuhörer in einigen Musikbeispielen überzeugen.

Zunächst erklang die Ouvertüre zur Oper "Die Hochzeit des Figaro" spielfreudig und mit viel Sinn für die von Mozart auf engstem Raum angesiedelten Kontraste. Von Jörg Widmann, 2012 zuletzt selbst Composer-in-Residence beim Festival (in diesem Jahr ist es Matthias Pintscher), wurde ein kurzes Orchesterstück namens "Con Brio" vorgestellt, das sich mit hoher Virtuosität mit den Charakteren beethovenscher Sinfonik befasst und damit permanent auf der Brücke zwischen Altem und Neuem unterwegs ist. Damit wurde eine Art gedanklicher Beethoven-Raum geschaffen, der - der Titel verrät es - "mit Feuer" zu spielen ist und derartig auch die Hörer begeisterte. Turković bat sich zwar aus, eben im Rahmen des Werkstattcharakters auch unterbrechen zu dürfen, doch der wilde Ritt gelang mit ordentlich Adrenalin bei den Musikern bis zum Finale, hier besonders vom unermüdlich werkelnden Paukisten Brandon Ilaw angetrieben.

Die französische Pianistin Lise de la Salle, die seit 2010 schon mehrfach in Moritzburg gastierte und die sommerliche Zusammenarbeit mit den Musikern hier auch als Höhepunkt ihrer eigenen Konzertsaison empfindet, interpretierte dann den 1. Satz aus Beethovens 4. Klavierkonzert G-Dur. Hier war es interessant, auch einmal verbal von der Interpretin die Richtung angezeigt zu bekommen: im Kontrast etwa zum Dritten Konzert sieht Lise de la Salle dieses Werk, und hier besonders die Ecksätze, als Ausdruck von Freude und Helligkeit, wie sie eigentlich so unverschattet selten in Beethovens Werk zu finden sind. Den Worten folgte man in der Musik prompt: Lise de la Salle ging mit klarem, ausdrucksstarken Spiel zu Werke, und die Akademisten begleiteten mit aufmerksamem Nachvollzug dieser Intentionen. Ein spontan von Vogler vorgeschlagenes Finale der Orchesterwerkstatt mit einem Auszug aus der "Jupiter"-Sinfonie von Mozart fiel den fehlenden Noten auf den Pulten zum Opfer, doch das Publikum wurde mit einem Da Capo der Figaro-Ouvertüre versöhnt in den Abend entlassen.
(16.8.2015)

Romantischer Schmelz und irdischer Mozart

Die Junge Deutsch-Polnische Philharmonie gastierte in der Martin-Luther-Kirche

Schon seit 15 Jahren existiert die Junge Deutsch-Polnische Philharmonie, und von Beginn an hatte sich das Orchester auf die Fahnen geschrieben, nicht nur einmal im Jahr ein Konzertprogramm mit Jugendlichen aus der Grenzregion von Polen und Deutschland auf die Beine zu stellen. Der Grundgedanke geht weit darüber hinaus: Immer wieder nehmen die Programme auf aktuelle Ereignisse oder Feierlichkeiten Bezug, so auch in diesem Jahr zum fünfzigsten Jahrestag des Hirtenbriefs der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder, der einen der ersten Schritte der Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutete. Die Versöhnung kann man in dem Musikprojekt fortgesetzt sehen - eine Woche lang proben die Jugendlichen intensiv unter fachkundiger Anleitung und ziehen dann durch Kirchen und Konzertsäle.

In diesem Jahr scheint der Schwerpunkt des Projektes wieder mehr in Polen zu liegen - vier Konzerten in der Umgegend von Breslau stand das die Tournee beendende Konzert in der Martin-Luther-Kirche Dresden gegenüber. Hierher strömte am Mittwochabend eine treue Fangemeinde und war gespannt auf das diesjährige Programm. Romantischer Musik von Johannes Brahms und Henri Wienawski stand das "Requiem" von Wolfgang Amadeus Mozart gegenüber. Damit kam das Orchester auch in den Genuss chorsinfonischer Arbeit und der Chor der Technischen Universität Breslau durfte sich auf der kleinen Konzerttournee präsentieren. Auch die Solisten sind zumeist Studenten oder (ehemalige) Mitglieder des Orchesters.

Als Dirigent stand der Leiter des Vogtlandkonservatoriums in Plauen, Jörg Leitz, zur Verfügung. Mit sattem romantischem Schmelz zogen zu Beginn die Klänge der "Tragischen Ouvertüre" von Johannes Brahms durch das Kirchenrund und vermittelten gleich einen guten Eindruck von dem, was hier in kurzer Zeit zusammengewachsen ist: Streicher und Bläser spielten nicht nur sauber und aufmerksam, sie bemühten sich auch um zielgerichtete Phrasierung und verlieh dem Stück dadurch viel Charakter. In Henri Wienawskis 2. Violinkonzert, ein übrigens viel zu selten erklingendes Werk, hatte nicht nur die Solistin Krystyna Wasik umfangreiche Aufgaben zu bewältigen - dem Orchester kommt hier im spätromantischen Satz eine ebenso wichtige Rolle zu. Bis auf wenige Wackler in den schnellen Passagen des 3. Satzes gelang das außerordentlich gut. Krystyna Wasik wiederum konnte man nur beglückwünschen, weil sie das doch mit allerhand virtuoser Ornamentik gespickte Konzert ruhig, mit einem schönen großen Ton und vor allem stets mit einem Ohr auf das hinter ihr begleitende Orchester anging. Dass hier und da die Intonation im Gesamtgefüge etwas litt, war angesichts der schönen Musikalität zu vernachlässigen.

Ähnliches gilt für das Mozart-Requiem, das sich - dies ist bei einem Projekt mit Jugendlichen ein Kritikpunkt - ohne Pause für Musiker und Publikum anschloss. Nicht mehr ganz reichte da die Aufmerksamkeit für die verschiedenen, oft sehr plötzlich entstehenden und wieder vergehenden Charaktere der Musik. Hier war vor allem der Chor der Technischen Universität Breslau die Anschubkraft. Malgorzata Sapiecha-Muzol hatte die knapp 40 Sänger hervorragend vorbereitet: die Rufe des "Rex tremendae" etwa waren prägnant, es wurde dynamisch sehr differenziert gesungen und der Text sehr gut deklamiert. Jörg Seitz tat gut daran, überwiegend auf flüssige Tempi zu setzen, die den Ensembles zur Musizierlust verhalfen. Die vier studentischen Gesangssolisten aus Breslau, Daria Stachowicz, Agnieszka Pulkowska, Bartosz Nowak und Stavros Chatzipenditis lösten ihre Aufgaben gut gut - sicherlich war aber hier noch Entwicklungspotenzial vorhanden und vor allem Stachowicz hatte mit ihrem volltönenden Soprantimbre mit den feinen Mozartlinien einige Probleme. Zum Ende hin fehlte dann doch die werkübergreifende Intensität, das "Lux Aeterna" in eine transzendente Atmosphäre zu überführen - Erleichterung überwog in diesem eher irdisch musizierten Ende. Und doch - gerade wenn Jugendliche sich dieser wunderbaren Musik nähern, bekommt man eine große Ahnung, was Leben, Versöhnung, Verständigung alles bedeuten kann. Allein dafür sind die Konzerte der Jungen Deutsch-Polnischen Philharmonie höchst wertvoll und die Musiker nehmen auch in diesem Jahr sicher ein unvergessliches Erlebnis mit nach Hause.
(30.7.2015)

Montag, 22. Juni 2015

Östliche und westliche Traditionen

Ensemble Courage im zweiten "An die Freunde..."-Konzert

Im zweiten Konzert der neuen KlangNetz-Reihe "An die Freunde..." gab es erneut Ensemble-Kammermusik zu erleben, diesmal richtete sich der Blick nach Asien. Natürlich ist das Motto der Konzertreihe derart dehnbar, dass man ohne weiteres eine zehnjährige Reihe daraus basteln könnte - die acht Konzerte in diesem Jahr werden fokussierend nur einige Aspekte erfassen können. Der Blick nach Asien ist insofern - erneut - wichtig, da sich seit den ersten Annäherungen europäischer Komponisten der zeitgenössischen Musik die Musiklandschaft gewandelt hat: viel selbstverständlicher trifft man heute auf asiatische Komponisten und Interpreten, die meisten von ihnen weisen eine fast globale Ausbildung bei Lehrern und Instituten rund um die Welt auf.

Insofern hatte das Ensemble Courage sicher die Qual der Wahl bei der Auswahl der Kompositionen. Mit dem Porträt von Isang Yun (1917-95) und Toshio Hosokawa (*1955), zwei Vaterfiguren der asiatischen zeitgenössichen Musik, gelang eine runde Dramaturgie. Eine Uraufführung des jungen chinesischen Komponisten Shen Hou, der in Dresden an der Musikhochschule studiert, setzte einen aktuellen Akzent. Schön auch, dass man im kooperierenden Hygiene-Museum auf Atmosphäre setzte. Statt Frontalbespielung saß das Publikum in kleinen Runden an Tischen, japanische und chinesische Tees wurden gereicht. Trotzdem war die Bühne dann doch ein paar Meter zu weit vorne, als dass sich gänzlich Intimität im großen Marta-Fraenkel-Saal einstellte.

Das zu Beginn gespielte Quartett für Flöte, Violine, Cello und Klavier ist insofern untypisch für Isang Yun, da es mit ungewohnt sanften, fast impressionistischen Klängen startet. Erst später wird die Struktur aufgeraut - einem durchgehalten fortissimo gespielten, wilden Abschnitt antwortete ein kurzes Adagio wie ein Abgesang. Dem Koreaner Yun folgte der Japaner Hosokawa: dessen "Stunden-Blumen" sind deutlich auf Olivier Messiaen bezogen, zitieren jedoch nicht wörtlich. Hosokawas im Mikro- wie Makrokosmos auf Entstehen und Vergehen eingehende Ästhetik ist schwer erreichbar, gleichwohl schuf das Ensemble Courage hier wie auch in den aphoristisch anmutenden "Duo" für Violine und Violoncello spannungsgeladene Darbietungen.

Shen Hous Uraufführung "Z" setzte einen schönen Kontrast, war sie doch im Gegensatz zu Yuns und Hosokawas tonreich-entwickelnden Kompositionen im zu entdeckenden Moment aufgehoben. Da stand die Zeit still und trotzdem gab es jede Menge Geräusche und Ereignisse zu entdecken - um so aufregender war dann ein plötzliches Insistieren eines Klanges oder eine aufgebaute Fläche. Isang Yuns "Pièce Concertante" aus dem Jahr 1976 beschloss das Konzert - trotz markant dissonantem Material war es das mit (westlicher) Musiktradition am nächsten zu verbindende Werk, und man konnte den klar abgegrenzten Teilen gut folgen. Fernab von Exotismus oder dieser Kultur gerne vergebenen Klischees ging das Ensemble frisch und kompetent mit diesen Werken um und zeigte eine Spielkultur, die tiefes Eindringen beim Hören ermöglichte. So konnte im wahrsten Sinne des Wortes Freundschaft geschlossen werden mit einer Musik, die uns heute kaum mehr fremd erscheint, sondern ihren Platz in der musikalischen Welt eingenommen hat.

Schwelgen mit Brahms

Orchester "Medicanti" im Konzertsaal der Musikhochschule

Halbjährlich lädt das Orchester "Medicanti" der medizinischen Fakultät an der TU Dresden zum Sinfoniekonzert ein, den Abschluss vor den Sommerferien bot am vergangenen Wochenende ein Konzert in der Musikhochschule. Das traditionsreiche Orchester hat nicht nur viele Mitglieder, es hat auch viele Freunde und Fans und so stieß man mit der Kapazität des Konzertsaales zwar an seine Grenzen, den überwiegend jungen Musikern bot das volle Haus aber eine besonders spannungsreiche Atmosphäre zum Musizieren.

Spätromantik und frühe Moderne war im Programm aufgeboten - Antonín Dvořáks Konzertouvertüre "In der Natur" erklang zu Beginn und war gleich ein nicht ungefährlicher Einstieg, denn bevor man sich im Tutti freispielen durfte, waren da einige behutsam vorwärtstastende Motive zu bewältigen. Das gelang dem Orchester unter Leitung von Wolfgang Behrend aber mühelos, das warme Timbre der Musik von Dvořák wurde sogleich eingefangen, auch Nebenstimmen in den Bläsern erhielten von Behrend Würdigung. Dass die Freude über die erwachende Natur noch spritziger hätte ausfallen dürfen, ist verzeihlich - man war bedacht auf ein gutes Gelingen in der direkten Akustik des Konzertsaales.

Maximilian Otto nahm dann am Flügel Platz, der erst sechzehnjährige Pianist ist ein Multitalent und bildet sich nicht nur an den Tasten fort (am Landesgymnasium für Musik bei Oksana Weingardt-Schön), sondern komponiert auch und erhält Unterricht in Kontrabass, Musiktheorie und Dirigieren. Dass er sich Sergej Prokofjews 1. Klavierkonzert Des-Dur für diesen Auftritt ausgesucht hat, spricht für gehörigen Mut und Anspruch - dieses in kaum zwanzig Minuten vorüberflitzende, kompakte Konzert birgt viele Hürden, aber auch virtuose Spielfreude in sich. Otto löste die Aufgabe mit Bravour und vor allem Sorgfalt. Er spielte ruhig und besonnen die technisch schwierigen Läufe aus und konnte den Motiven viel Charakter verleihen, in den kleineren und größeren Kadenzen griff er beherzt zu. Behrend und die Medicanti begleiteten aufmerksam und schwungvoll, nur im finalen Tutti ging das Klavier dynamisch unter. Da hatte Otto aber längst das Publikum für sich eingenommen und bedankte sich mit einer Etüde von Alexander Skrjabin.

Eine große Aufgabe stand dann noch nach der Pause an: Johannes Brahms 2. Sinfonie D-Dur ist ein lichtes, weniger dramatisches Werk, das stetig zwischen lyrischem Schwelgen und sanft aufgerauter Entwicklung pendelt. Das vermittelte Behrend dem Orchester gut, gleich der umfangreiche 1. Satz gelang überzeugend in der Ausgestaltung der Motive. Im großen Streicherapparat war da viel Verständnis für die Bögen der Musik verhanden und man konnte sich an konzentriertem, gemeinsam realisierten Spiel erfreuen. Lediglich der 2. Satz wurde im angezeigten Tempo zu zäh und verlor dadurch seine innere Spannung - dieses Adagio verträgt auch im langsamem Duktus mehr Leidenschaft. Im fein ausgehörten Allegretto und dem zum Ende hin positiv drängenden Schlusssatz konnte man sich allerdings nur freuen über viel homogenes, auch in schwierigen Bläserpassagen klangschön realisiertes Spiel - ein gelungener Semesterabschluss!

In höheren Sphären

Martin Grubinger, Christoph Eschenbach und die Bamberger Symphoniker in der Semperoper

Nein, sie sind nicht irgendein städtisches Orchester - die Bamberger Symphoniker, obwohl erst 1946 gegründet, haben seit Jahrzehnten einen hervorragenden Ruf und haben sich weit über Bayern hinaus einen Namen gemacht. Große Dirigentenpersönlichkeiten wie Joseph Keilberth und Horst Stein prägten das Ensemble, Jonathan Nott führte sie ins 21. Jahrhundert. Mit Christoph Eschenbach am Pult gastierten sie am Finalwochende zu den Musikfestspielen in der Semperoper. Der Dirigent wurde erst vor wenigen Tagen mit dem wichtigen Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet - die Würdigung seines Lebenswerks im Dienste der Musik.

Die Förderung junger Talente ist Eschenbach immer besonderes Anliegen, der prominente Solist, den er mitbrachte, ist allerdings längst in höhere Sphären aufgebrochen: Martin Grubinger ist weltweit einer der besten Schlagwerker und war erst im April zu Gast bei der Dresdner Philharmonie - seine hiesige Fangemeinde sorgte für ein vollbesetztes Auditorium in der Semperoper. Mit dem von ihm 2007 uraufgeführten Schlagzeugkonzert "Frozen in Time" des israelischen Komponisten Avner Dorman brachte Grubinger dieses Mal ein Stück mit, das in gut einer halben Stunde Dauer einmal die ganze Welt durchforstete, historisch wie geographisch.

Dass dabei ein polystilistischer Flickenteppich zwischen indischer Tala, Swing, afrikanischen Rhythmen und europäischer klassischer Tradition entstand, war insofern verschmerzbar, da von Anfang bis Ende Auge und Ohren auf Grubingers Kunst fixiert waren, der zwischen leisestem Vibraphonklang, einem eigenen Klangkosmos aus Marimba und Glocken sowie entfesselten Trommelkaskaden beeindruckend agierte. Kongenial war die Partnerschaft zwischen Grubinger und Eschenbach, wobei letzterer trotz rasant wechselnden Charakteren immer genügend Atem für den Solisten bereithielt. Was in diesem Werk - zumindest bis Reihe Neun - komplett akustisch unterging, war der Orchesterpart. Viele Passagen der Ecksätze waren lediglich optisch wahrzunehmen, nur im zweiten Satz des formal recht biederen Stücks konnten die Musiker sich zu raffinierten Klangfarben im Dialog mit Grubinger entfalten.

Im zweiten Teil des Konzertes waren dann die Bamberger Symphoniker selbst der Solist: in Béla Bartóks "Konzert für Orchester" konnten sie eine hervorragende Klangkultur entfalten und überzeugten vor allem mit homogener Umsetzung von Eschenbachs nuanciertem Dirigat. In den ersten vier Sätzen war eine prägnante, natürliche und zuweilen auch verspielte Vorstellung der vielen Motive und Klangfarben zu erleben - Bartóks lustvolles Spiel mit Rhythmen und Volksmelodien erschien hier liebevoll gewürdigt. Das Finale nahm Eschenbach dann ziemlich rasant, was aber mit stets spürbarem gegenseitigen Vertrauen zum Erfolg führte. Ein passendes Encore bildete Maurice Ravels bekanntes Poème choréographique "La Valse" zum Abschluss, hier durften - mit von Eschenbach klug organisiertem Spannungsaufbau - vom Kontrafagott bis zum Piccolo alle Instrumente selig im Dreivierteltrubel glänzen.
(9.6.15)

Darf der das?

Klavierabend von Olli Mustonen bei den Dresdner Musikfestspielen

Wenn man den Finnen Olli Mustonen zu einem Konzert einlädt, lohnt es sich, ihn erstmal zu fragen, in welcher ausübender musikalischer Profession er sich dem Publikum vorstellen will - aktiv ist er als Dirigent, Pianist und Komponist. In Dresden konnte man sich bereits beim Moritzburg Festival von seinem Können überzeugen. Bei den Musikfestspielen gab er am Freitag ein Klavierrecital, bei welchem er auch eine eigene Klaviersonate vorstellte. Ohnehin verspricht ein komponierender Interpret meist interessante Interpretationen, weil der Blick des Tonsetzers auch bei fremder Literatur nie ganz abschaltbar ist. Diese Haltung schuf wohl die außergewöhnliche Energie dieses Klavierabends, bei dem man sich einige Male des soeben Gehörten vergewissern musste: darf der das? Geht das denn überhaupt? Nicht alle dieser Fragen und Irritationen konnten aufgeklärt werden.

Zunächst widmete sich Olli Mustonen dem "Kinderalbum" von Peter Tschaikowsky - sicherlich ein Werk, das jedem Klavierschüler schon einmal begegnet ist; seltener werden die vierundzwanzig Stücke in Gänze aufgeführt. Mustonen ging mit dem Seziermesser zu Werke, traf die Charaktere teilweise so blitzscharf, dass die Puppengeschichte als Scherenschnitt vor dem Ohr entstand. Reiter und Volkstänzer waren schneller um die Ecke verschwunden, als sie aufgetreten waren und die Lerche bekam ein stählernes Korsett. Das war extravagant und bisweilen weit über die Noten hinaus interpretiert: Mustonen öffnete hier seine eigene Märchenkiste und spielte auf seine Weise mit den Figuren, selten versonnen, manches mal ruppig.

Mit Tschaikowsky führte dies zu einem Aha-Effekt, bei den sechs folgenden Chopin-Mazurken war dann aber mit ähnlich hartem Anschlag eine Grenze überschritten. Punktierungen gerieten hier so scharf, dass der von Chopin meisterlich behandelte Tanzcharakter derb wirkte - diese im Ausdruck nah an der Verzweiflung angelegte "finnische Mazurka" war zwar sicher ein einzigartiges Hörerlebnis, mit Chopin hatte sie nur wenig am Hut. In der zweiten Konzerthälfte hatte Mustonen pianistisch üppigere Werke ausgewählt, in welchen er auch viel virtuoses Spiel zeigen konnte und - weiterhin - extremen Ausdruckswillen nachging.

Nun aber fanden Werk und Interpretation glücklicher zueinander, zunächst in Mustonens eigener Klaviersonate "Jehkin Iivana", die mythischen finnischen Geschichten und dem finnischen Nationalinstrument, der Kantele, ein musikalisches Denkmal setzt - hier konnte man wunderschön ausgespielte Klangwelten verfolgen, die Mustonen mal volkstümlich, mal vollgriffig-sinfonisch in Töne gesetzt hatte. Mit Sergej Prokofjews 7. Klaviersonate stand dann zum Abschluss ein gewaltiges und durchaus auch gewalttätiges Stück aus den Jahren des 2. Weltkrieges auf dem Programm, dem Mustonen kompromisslos begegnete - im leisen wie lautem Extrem. Dadurch geriet besonders der langsamere zweite Satz mit seinem irrwitzigen Walzer zu einer Art visionärem Horror, den dritten spielte Mustonen in einem Rutsch und verausgabte sich dabei völlig. Einen solchen Klavierabend erlebt man nicht alle Tage.
(8.6.15)

Sonntag, 7. Juni 2015

Höhenflug der ernsthaften Art

Arriaga, Ravel und Sibelius mit dem Auryn-Quartett

Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen: seit 34 Jahren spielt das in Nordrhein-Westfalen beheimatete Auryn-Quartett in unveränderter Besetzung. Wenn gerade das Thema "Ehe für alle" in den Schlagzeilen rotiert, könnte dieses Streichquartett sicher eine Menge darüber berichten, wie so etwas über drei Jahrzehnte zu viert funktioniert - selbstverständlich ausschließlich aus musikalischer Sicht, aber aus der Musik heraus kann man ja immer eine Menge für das Leben lernen. Ihre Erfahrungen geben die vier Herren längst an der Detmolder Musikhochschule als Kammermusikprofessoren weiter.

Kenner der Kammermusikszene werden dem Auryn-Quartett ein unverwechselbares Klangbild bescheinigen, das sich in dreißig Jahren kontinuierlich aufgebaut hat und natürlich mit Instrumenten, Charakter und Vorlieben der einzelnen Mitglieder zu tun hat, zudem verfügt das Auryn-Quartett über ein grenzenloses Repertoire vom Barock bis zur Gegenwart. Eine Demonstration dieser reifen Spielkultur durfte das Publikum der Musikfestspiele am Donnerstagabend im Palais im Großen Garten erleben - im Programm begab man sich auf eine musikalische Reise von Spanien über Frankreich nach Finnland.

Als Geheimtipp gilt der baskische Komponist Juan Crisóstomo de Arriaga (1806-1826), dessen hoffnungsvolles Schaffen mit einem jähen Tod sein Ende fand. Sein 3. Streichquartett Es-Dur bedient die klassische Form, bezieht aber auch romantisches Empfinden ein, das deutlich auf Schubert weist und besonders in einem Pastoral-Satz eine naturalistische, fast sinfonische Dichtung im Quartett entfaltet. Plastisch gelang dies dem Auryn-Quartett, wenngleich in schnellen Werten hier noch etwas Nervosität zu bemerken war und manche Motivarbeit erst im zweiten oder dritten Anlauf homogene Klarheit erhielt, dann aber war durchweg die "gemeinsame Sache" ein Stilmerkmal, das sich durch alle Werke des Konzertes zog.

Ein Klassiker ist das (einzige) Streichquartett von Maurice Ravel vor allem in seiner einzigartigen Sprache - der großen Kammermusiktradition wird hier mit leichtem, weichen Bleistift begegnet. Fulminant gelang vor allem der letzte Satz mit dichtem, spritzigen Streicherklang. Den Esprit hatte man allerdings vorher vermisst, das helle Leuchten dieses Werkes wollte in der oft geradlinigen Lesart nicht zur Erweckung gelangen. Man wurde das Gefühl nicht los, dass die Musiker mit großer Kompetenz herangingen, der Pegel der Sinnlichkeit aber noch größer hätte ausschlagen dürfen. Nach der Pause stand mit Jean Sibelius viertem Streichquartett "Voces Intimae" ein großes, vornehmlich düster-grüblerisches Werk auf dem Programm, das trotz eines virtuos wirbelnden Finales eine Hoffnungslosigkeit hinterläßt, die vor allem aus der Erfahrung des Adagios herrührt, das einige Male an den Grundfesten der Welt zu zweifeln scheint.

Hier entwickelten Matthias Lingenfelder, Jens Oppermann, Steward Eaton und Andreas Arndt einen Höhenflug der ernsthaften Art. Sie zeichneten die nahezu festgebissenen Noten mit erschreckender Lapidarität nach - was ein überzeugender Interpretationsansatz war - und setzten dem Werk keinen falschen Romantizismus auf. Selbst das Scherzo und das Allegretto bekamen so einen fahlen, nachdenklichen Anstrich. Um die für diese großartige Leistung stark applaudierenden Zuhörer versöhnlich zu entlassen, spielte das Auryn-Quartett noch einen der schönsten Sätze eines Mozart-Quartetts überhaupt: das Andante Cantabile aus dem "Dissonanzen-Quartett". Wunderbar gelangen den Musikern hier die gesanglichen Linien und das Empfinden für die natürliche Länge der Harmonien. Und die Welt war wieder in Ordnung.

Familie - ein unruhiger Ort.

Leonard Bernsteins Oper "A Quiet Place" in der Manufaktur

Oper in der VW-Manufaktur? Nach den bisherigen Erfahrungen waren klassische Konzerte manches Mal ein Wagnis - schon allein, weil die akustischen Gegebenheiten in der Manufaktur selten befriedigende Ergebnisse hervorbrachten. Doch gerade für Experimentelles und Zeitgenössisches stimmen Atmosphäre und Umgebung und so war die Entscheidung, Leonard Bernsteins 1983 in Houston uraufgeführte Oper "A Quiet Place" genau hier zu platzieren, richtig.

Leider war die (einzige) Vorstellung in Dresden bei Kartenpreisen von gut 100 Euro zahlungskräftigen Musikliebhabern vorbehalten, dabei hätte gerade dieses Werk einen breiten Zuhörerkreis verdient. Der Dirigent Kent Nagano, der damals schon bei den Proben zur Wiener Aufführung der Oper dabei war, hatte eine neue Fassung des Werkes in Auftrag gegeben, die er 2013 mit dem Ensemble Modern uraufgeführt hat. Mit der auch beim Publikum durchgefallenen Originalfassung war der Komponist selbst nicht zufrieden gewesen - nun ist ein überraschend schlüssiges Konzentrat entstanden, das dem Stück auch zu weiterer Verbreitung verhelfen könnte.

In drei Teilen über neunzig Minuten erstellte Garth Edwin Sunderland ein Kammerspiel, bei dem als gelungen zu vermelden ist, dass von der ersten bis zur letzten Note der kreative, umtriebige und auch widersprüchliche Geist Bernsteins unabgemildert durch die Partitur weht und meistens auch stürmt. Wer Bernstein, diese hochsensible, oft zweifelnde Persönlichkeit in all seinen Facetten kannte, dürfte auch von "A Quiet Place" viel mitgenommen haben; nur wer von diesem Abend lockere Broadway-Stimmung erwartete, wurde womöglich enttäuscht. Doch es gab von allem etwas, denn dieser "späte" Bernstein ist musikalisch nicht in einer Richtung festgelegt.

Die äußere Handlung ist schnell erzählt: am Sarg der verstorben Dinah versammelt sich die Verwandtschaft, ihr Tod erzeugt den Raum für Erinnerungen, Aufklärung aber auch vielfache Verstrickungen innerhalb der Beziehungen der Familie. Dabei schwankt Bernsteins Tonfall von einer Partiturseite zur nächsten vom jazzig-buffonesken Stil bis hin zu tiefer Bitternis mit vielen autobiographischen Zügen. Viele Symbole und (Selbst-)Zitate tauchen auf, am auffälligsten ist der Garten, den Dinah hinterläßt und der schon in Candide ein Sehnsuchts- und Hoffnungssymbol war - hier ist er voller Unkraut und die ganze Familie ist hin- und hergerissen im "Wie weiter?".

Die behutsame szenische Einrichtung der Aufführung von Georges Delnon mit Filmschnipseln einer Achterbahnfahrt und Clips amerikanischen Familienidylls unterstützt die Annahme, dass es in diesem letzten Bühnenwerk von Leonard Bernstein nicht weniger als um das große Ganze geht: "Akzeptieren oder Sterben?" fragen sich die Protagonisten ein ums andere Mal und Themen wie Selbstmord, Homosexualität und Generationenkonflikt tragen in dieser komplexen, teilweise auch rasanten Abhandlung nicht wenig zur - notwendigen - Verstörung bei. Mit gleichzeitigem Hören, Schauen und Lesen der Übertitel war auch der Zuhörer ordentlich gefordert. Am Ende der mit prallem Leben gefüllten Oper steht mit der Umarmung von Vater und Sohn ein Lichtblick in die Zukunft: "Ich verstehe Dich nicht, aber die Tür ist offen." Dass die Aufführung in dieser neuen Fassung bei den Musikfestspielen zu stehenden Ovationen führte, ist vor allem einer immens guten Sängerleistung - man möchte fast von einem Sängerfest sprechen - und der kongenialen Gesamtleitung von Kent Nagano zu verdanken, der ruhig und bestimmt die wahrlich nicht einfache Musik jederzeit in Bahnen lenkte, wo die Sänger und das fabelhaft agierende Ensemble Modern intensiven Ausdruck ermöglichen konnten.

So getragen konnten Claudia Boyle (Dede, Sopran), Benjamin Hulett (Francois, Tenor), Jonathan McGovern (Junior, Bariton) und Christopher Purves (Sam, Bariton) in den Hauptrollen vorzüglich glänzen und auch darstellerisch in der emotionalen Achterbahnfahrt innerhalb der Familienbande überzeugen. Hinzu gesellte sich ein Beerdigungs-Vokalensemble mit souveräner Dresdner Unterstützung durch Henriette Gödde (Alt) und Aaron Pegram (Tenor). Dass die Verstärkung der Solisten im forte Grenzen überschritt, hingegen die Instrumentalisten manches Mal im Gesamtklangbild fahl erschienen, ist ein weiterhin zu akzeptierendes Manko an diesem Ort, die Intensität der Begegnung mit diesem außergewöhnlichen Werk schmälerte es indes nicht.
(4.6.2015)

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