Montag, 31. Oktober 2011

Endhaltestellenwanderungen Teil III: Prohlis

Am Sonntag nun ging es endlich nach Prohlis. Nach 17 Jahren in Dresden musste ich feststellen, dass ich nur ein einziges Mal wissentlich in diesem Viertel zu tun hatte, als ich den Exilort des Kreuzgymnasiums besucht habe. Vermutlich ist Dresden aber einfach auch groß genug, dass man als "West"-Viertelbewohner schlicht wenig im "Osten" zu tun hat, wenn man nicht gerade Verwandtschaft dort hat oder einen Beruf mit lokaler Mobilität sein eigen nennt. Mobil ist man aber mit der DVB in einer guten halben Stunde aus dem Zentrum vor Ort - die Endhaltestelle Prohlis deckt gleich dreifach unsere Wanderkapitel ab: die 1, 9 und die 13 enden hier.

Möglicherweise widme ich dem Viertel selbst noch ein eigenes Kapitel, wenn mir mitgeteilt wird, was es dort alles zu entdecken gäbe. Wir aber waren am Sonntag natürlich auf Wanderung und Natur eingestellt, und deswegen haben wir uns von der Haltestelle aus gleich südwärts gewandt. Die B172 kreuzend, lassen wir schnell den Kaufpark Nickern an der Seite liegen und tauchen in ein kleines Wohnviertel ein, das idyllisch von Gartensparten begrenzt wird.



Wir sind in Nickern und stellen fest, dass auch hier, wie auch in Leutewitz am Hang zu beobachten, viele neue Ecken mit Einfamilienhäusern entstanden sind. Trotzdem gibt es noch einen alten Dorfkern, den man erlaufen kann und man bestaunt alte Bäume und manch altes Gehöft, das liebevoll restauriert wurde. Der Geberbach windet sich mitten durchs Viertel, und bachaufwärts treffen wir auf das Schloss Nickern, dass fast schon romantisch an diesem Sonntagmittag einen Herbstlaubschlaf schläft.



Wir folgen dem Bachlauf weiter südwärts über Streuobstwiesen und gelangen nach Kauscha. Hier gibt es einen Jugendbauernhof und im Dorf eine imposant auf einer Anhöhe stehende zu Ehren von König Albert 1898 gepflanzte Stieleiche, die wir bewundern.





Weiter den Bach entlang stoßen wir auf zwei Stauseen, die kaum gefüllt sind und als Rückhaltebecken dienen. Die Brücke der A17 über diesen Taleinschnitt finden wir sehr praktisch, da wir genau bei der Passage dieser Brücke Schutz vor dem einsetzenden Regen finden. Der obere See scheint in einem schlechten Zustand zu sein, das Gemäuer bröckelt, von alten Schildern, die den Ort oder möglicherweise die Gefahr beschrieben haben, stehen nur noch die Sockel.



Der Weg, der mit einem grünen Zeichen sogar als Wanderweg ausgewiesen ist, zeigt weiter südwärts, und so erreichen wir nach einer Pferdekoppel und einem Hundesportplatz Goppeln. Der Weg hinauf zur Babisnauer Pappel wäre die Krönung, aber wir sind hungrig und suchen daher nach einem Ort zur Stärkung.

Der Gasthof in Goppeln sieht trotz großformatiger Beschilderung leider verwaist aus, doch finden wir ein Altenheim und Kloster, dass von den Nazareth-Schwestern (ein 1923 von Mutter Maria Augustina gegründeter Orden mit dem Mutterhaus in Goppeln) unterhalten wird: Sonntags 14 Uhr Klostercafé! Unser Ziel ist erreicht und so mischen wir uns in das muntere Publikum, das mit der 75 aus Leubnitz zum Kaffeeklatsch hier rausgefahren ist - der Altersunterschied wird marginal, denn wir verköstigen ebenfalls Käffchen und Kuchen und schwatzen - die selbstgemachten Waffeln nehmen wir uns für den nächsten Besuch vor. Praktischerweise kommt aller halbe Stunde eine 75 den Berg aus Leubnitz hochgekrochen und wendet an der wohl urigsten Endhaltestelle mit steinernem Wartehäuschen und einem weiteren Häusel für das dringende Bedürfnis des Busfahrers. Nachdem die 75 noch eine Ehrenrunde durch Leubnitz dreht, gelangen wir rasch wieder in die Innenstadt und haben auch heute wieder Dresden neu kennengelernt.


Blick von Goppeln Richtung Osten, im Tal der Gebergrund

Weitere Informationen bei Lockwitz-Intern.de

Lebendige Versöhnung durch Musik

Benjamin Brittens "War Requiem" in der Frauenkirche

Ein sonniger Herbsttag neigte sich, als die Besucher am Sonnabend der Frauenkirche zuströmten - Benjamin Brittens monumentales "War Requiem" stand auf dem Programm, veranstaltet von der Stiftung Frauenkirche und musiziert von der Dresdner Philharmonie. Ein wenig sucht man da schon nach dem Anlass einer solchen Aufführung - rechtfertigt ein "normales" Samstagabend-Konzert den Aufwand dieses Werkes, das mehrfach bereits zum Gedenktag am 13. Februar aufgeführt wurde? Diese Frage ist im Falle Britten zu bejahen - denn dieses Stück gehört als musikalisches Versöhnungszeichen ohnehin in die beiden Städte, das Nagelkreuz am Altar der Frauenkirche zeugt von der Verbindung, die im Gedenken, aber auch in Kunst und Kultur lebendig erscheint.

Die Frauenkirche darf gerne zukünftig einigen Mehraufwand betreiben, um dieses 1965, drei Jahre nach der Uraufführung in Coventry erstmals in Dresden erklungene, so wichtige Oratorium dem Dresdner Publikum nahezubringen. Dazu gehört eine gemäßigte Preisgestaltung ebenso wie Werkeinführungen und der Mut, auch einmal von der touristischen Vermarktung abzusehen, die doch allzusehr von der Absicht einer nachwirkenden Aufführung mit Aussage ablenkt.

Musikalisch befand man sich bei der Aufführung am Sonnabend auf allerhöchstem Niveau. Es war die zweite Aufführung des Oratoriums in der Frauenkirche überhaupt; die erste fand dort 2008 ebenfalls mit der Dresdner Philharmonie statt. Die Hamburgische Generalmusikdirektorin und Intendantin Simone Young, profunde Kennerin von Brittens Werk, verstand es exzellent, zwischen exakter, zugreifender Impulsivität und flüssiger Liniengestaltung (etwa im Agnus Dei) zu vermitteln. So erhielt das War Requiem eine Kontrastbreite, die im feinfühlig musizierenden Orchester zwischen innigstem Solo und herausbrechender Masse alle musikalischen Schattierungen zu zeigen vermochte.

Ein von Emotionen freier Nachvollzug des Werkes ist ohnehin schon unmöglich, läßt man sich nur einmal in die von Young gut gezeichneten a-cappella-Schlüsse der Sätze fallen. Mit enormer Weichheit und tragendem Ton wurden diese vom Philharmonischen Chor Brünn geformt, der für das Werk optimal vorbereitet war. Ausgezeichnete Deklamation, gute Intonation und jederzeit in großen Bögen und Linien fließende Stimmen waren die Kennzeichen dieses Spitzenchores. Dem stand der Philharmonische Kinderchor kaum nach, war aber - räumliche Grenzen waren erreicht - auf der seitlichen Chorempore akustisch nur diffus wahrnehmbar. Überragend gestalteten Andrew Staples (Tenor) und William Shimell (Bariton) die exorbitanten Solopartien aus den in den lateinischen Messetext eingefügten Gedichten von Wilfred Owen, die oft zu knapp intonierende Sopranistin Miriam Gordon-Stewart konnte mit dieser Qualität nicht mithalten. Am Ende schien selbst das Orchester ergriffen von der soeben gestalteten, unglaublichen Musik; fast zu kurz erschien die Stille im Rund der Kirche nach dem letzten - versöhnlichen - Chorakkord.

Sinnspiel von Leben und Tod

Karl Amadeus Hartmanns "Simplicius Simplicissimus" in Semper2

"Wir sind ja nun mehr ganz verheeret" - ein Zitat aus Andreas Gryphius ergreifendem Gedicht "Tränen des Vaterlandes" (1636), das mitten in Karl Amadeus Hartmanns Oper "Simplicius Simplicissimus" erscheint und die ganze Befindlichkeit des gebeutelten Volkes im Dreißigjährigen Krieg spiegelt, legt sich von diesem Mittelpunkt aus wie ein Schleier über die ganze Oper: Auch Hartmann (1905-1963) befand sich zum Zeitpunkt der Komposition des Werkes zwischen den Verheerungen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Reflektion und ahnungsvolle Vision gehen hier eine bedrückende Gemeinschaft ein und am Ende der Oper ist klar, dass auch die in vielen Weltgegenden gewaltreiche Gegenwart kaum Anlass zum Zurücklehnen bietet.

Insofern bot die Premiere von Karl Amadeus Hartmanns bewegendem Werk an der Dresdner Semperoper nicht nur einen zeitlos wichtigen Kommentar zum Zeitgeschehen, sondern in knappestmöglicher, konzentrierter Form reichlich Anlass zum Nachdenken. Dass dies ermöglicht wurde, garantierte die stimmige Einheit von Regie (Manfred Weiß), Bühne (Timo Dentler) und Kostümen (Okarina Peter). Für die frühe Kammerorchesterfassung mit 15 Instrumenten schien der intime Raum von Semper2 prädestiniert. Statt in einer Probebühne wähnte man sich durch die Quader-Bühnengestaltung um das Publikum herum in einem derart abgeschlossenen Raum, dass die Übertragung von Szene und Musik auf den Zuhörer in einer selten so direkt zu erlebenden Weise geschah. Konventionelles Frontaltheater wäre bei dieser Thematik ohnehin unangebracht: an jeder Stelle des Werkes, das "seine formale Konsistenz aus der Erregung nicht verleugnen kann" (Hartmann) sind wir unmittelbar angesprochen.

Regisseur Weiß versuchte (von einigen Schneeflocken abgesehen) daher auch gar nicht, die Kraft des Wortes, die ohnehin auch in zeitgenössischen Texten überwiegt, durch Theaterdonner oder Chiffrierung zu mildern. Auf einfachen Hockern folgt das Publikum-Volk der Geschichte des Bauernjungen Simplici, der in den Kriegswirren seine Authentizität behält, die ihm am Ende sogar das Leben rettet und kurzzeitig vermag, anderen die Augen zu öffnen. Wie stark wirkt in dieser minimalistischen Umgebung die 2. Szene in der Natur, wie selbstverständlich und unverrückbar steht der schon von Hartmann mitkonzipierte Lebensbaum als Gleichnis und einziges Bühnenutensil im Raum.

Auch den Protagonisten des Werkes ist anzumerken, dass sowohl die Intensität des Momentes als auch der dramatische Zug hin zur dritten Szene nachvollzogen wird. Die Australierin Valda Wilson in der Hauptrolle bleibt natürlich, sowohl stimmlich als auch darstellerisch; damit folgt man ihr bereitwillig durch Freude und Leid der Handlung. Timothy Oliver als Einsiedel überzeugt ebenfalls mit souveräner Gestaltung, genauso Matthias Henneberg als Hauptmann. In weiteren Rollen fügen sich Allen Boxer und Tom Martinsen, sowie Lina Lindheimer (Tanz) und ein kleines Ensemble des Staatsopernchors in dieses Sinnspiel von Leben und Tod, von Arm und Reich, Frieden und Gewalt. Der Hartmann-erfahrene Dirigent Erik Nielsen leitet straff und gleichzeitig flexibel durch die schillernde Partitur, die zwischen barockem Choral, Strophenlied und derbem Gassenhauer alles auffährt, was in den Zwischenkriegsjahren des vergangenen Jahrhunderts en vogue war - niemals aber verliert Hartmann den ihm eigenen, oft zweifelnden, abwartenden Ton, den Nielsen mit dem Ensemble vor allem in vielen Instrumentalsoli überzeugend herausmodelliert.

Potenzial besteht dennoch, die letzte Konsequenz einer zwingenden Übereinstimmung aller Musiker und Darsteller könnte diese Inszenierung zu einem geheimen Höhepunkt der Saison machen. Dank einer Vielzahl von Ansetzungen sollte jedem Interessierten der Besuch einer Aufführung anempfohlen sein - die fehlenden Kronleuchter vergisst man gleich in den ersten Takten, in denen man - Theater sei Dank - mitten in die Handlung geschleudert wird.

weitere Termine: 24., 25., 27, 30. Oktober & 1., 3., 8., 10., 11. November

mehrLicht

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