Dienstag, 25. Oktober 2011

Endhaltestellenwanderungen, Teil II

Heute gab es schon die nächste Wanderung - zukünftig auch bebildert und immer mit Links zu interessanten Wegpunkten, Verschnaufstätten oder Bemerkenswertem am Straßenrand. Die Wanderungen werden hier in loser Folge erscheinen, aber wir versuchen natürlich, die 19 Endpunkte straff nacheinander in Angriff zu nehmen. Über den Menüpunkt "Dresden" links sind alle Berichte schnell aufrufbar.

In Ermangelung eines großen Zeitfensters, das uns heute eigentlich zum anderen Endpunkt der Linie 1, nach Prohlis, hätte führen müssen, entschieden wir uns für die Linie 3 zum Wilden Mann - Künftig versuchen wir allerdings die Abfolge der Linien einzuhalten, der nächste Bericht kommt also wirklich aus Prohlis.
Man sollte auch keinesfalls denken, ich käme aus der touristischen Branche - es war einfach eine Idee, die Stadt besser kennenzulernen und die Hunderunde vom berühmten "um-den-Block-Gang" zu erweitern, schließlich ist die DVB ja fix und befördert einen schnell an die Ränder der Stadt. Die Touren selbst entstehen meist spontan - wir lassen uns überraschen, wen oder was wir vorfinden.

Wilder Mann also, eingebettet in die Viertel Trachau und Trachenberge, der Name entstammt wohl dem Volksgebrauch und dem Namen eines Ausflugslokals, das aber nicht mehr existiert. Wir verlassen den gelben Zug an der Schleife und wenden uns bergwärts. Geräusche und Abgase verfolgen uns zunächst bis hinter die Autobahn. Dahinter beginnt die sogenannte "Junge Heide", ein Fortsatz der Dresdner Heide, heute vom gerodeten Heller und der Autobahn getrennt, aber immer noch ein imposantes Waldgebiet, das im Norden nach Boxdorf und westlich bis nach Radebeul reicht. Bis zum Heidefriedhof wandern wir nicht, sondern halten uns parallel zur Autobahn, womit sich nicht unbedingt romantische Waldesstille einstellt.


Funktionaler Bau in Trachau: die Sparkasse

Eine Unterführung führt uns zurück nach Trachau in das Gebiet um die Schützenhofstraße, hier ist das Wohnviertel der Großsiedlung Trachau architektonisch besonders interessant und viele Grundstücke am Hang weisen sehr individuelle Gärten und Häuser auf.



Eine namenlose Treppe führt hinauf in Richtung Galileistraße, etwas oberhalb an der Neuländer Straße residiert das Landeskriminalamt. Von oben hat man einen guten Blick über die Westseite der Stadt bis hinüber nach Gorbitz, 600 tief ziehende Kraniche waren bei diesem Termin nicht geplant, verschönern uns aber mit ihren Rufen den Spaziergang. Die Runde muss dann leider wieder beendet werden, allerdings nicht ohne Einkehr. Diese findet noch am Bergzipfel in der passenderweise "Bergziege" benannten Eisdiele statt, in der man kurz einmal Ruhe und dampfenden Kaffee samt "Gedeck" (sogar der Hund bekommt ein Leckerli!) findet, bevor wir noch einem etwas orientierungslosen älteren Herrn wieder zurück in die Stadt verhelfen und mit der 3 daselbst wieder eintauchen.

Erneuerung und Kontinuität

20 Jahre "Sächsische Gesellschaft für Neue Musik"

Die ersten Jahre nach der Wende bedeuteten für viele Menschen intensive Phasen der Neuorientierung. Neben der Suche und Behauptung der Identität stand im kulturellen Bereich im Vordergrund, sich nicht nur in der neuen Gesellschaft wiederzufinden, sondern auch gestaltender Teil dieses Neuen zu sein. So wuchsen und verblühten verschiedene Pflanzen des Aufbruchs, doch manche hatten Bestand und nach wechselvoller Geschichte gilt es heute Jubiläum zu feiern.

Im März 1991 gründeten Dresdner Komponisten, Musiker, Musikwissenschaftler und Dramaturgen die "Sächsische Gesellschaft für Neue Musik". Nicht nur das Wissen um ähnliche, bereits bestehende Einrichtungen im Westen stand im Focus, sondern vor allem der Willen zur Pflege und Aufführung der in Sachsen entstehenden zeitgenössischen Musik. Impulsgebend waren sicherlich damals die noch jungen "Tage der zeitgenössischen Musik", anstelle eines Festivals sollte die Gesellschaft aber vor allem gemeinsame Interessen, kreative Ideen und künstlerisch wirkende Persönlichkeiten bündeln. Als eingetragener Verein konnte die SGNM sich fortan im Dresdner Kulturleben verorten.

Ihre Aktivitäten sind dabei so vielgestaltig wie die neue Musik selbst; die Unabhängigkeit der kleinen Gesellschaft in der Kulturszene wurde bewahrt, wenngleich Kooperationspartner wie die Hochschule für Musik oder das Europäische Zentrum der Künste in den heutigen Zeiten nicht nur unabdingbar, sondern auch sehr nützlich erscheinen. So gab es je nach Veranstalter und Konzertkonzept wechselnde Aufführungsorte, auch die Gesellschaft selbst erneuerte sich in den zwanzig Jahren mehrfach. Natürlich ist der Landesname im Titel der Gesellschaft Programm, denn im Freistaat arbeiten schließlich unzählige Komponisten an der künstlerischen Gestaltung unserer Gegenwart, an tönendem Material herrscht also kein Mangel. In der letzten Dekade ist eine Kontinuität zu beobachten: seit 2004 leitet der Komponist Prof. Günter Schwarze die Geschicke; ab 2007 wurde die Konzertreihe "modus vivendi" entwickelt, in der die Orgel im Blickpunkt neuer Werke steht.

Daneben bildet Kammermusik in gemischten Besetzungen einen Schwerpunkt, jüngst wurde auch ein eigenes Ensemble gegründet. Trotzdem gab und gibt es auch immer wieder Einladungen versierter Instrumentalisten der zeitgenössischen Musik zu Porträt-Konzerten. Das 20jährige Jubiläum der Gesellschaft wird mit einem Orgelkonzert im Rahmen des Tonlagen-Festivals gefeiert. In der Martin-Luther-Kirche, deren frisch restaurierte Jehmlich-Orgel dann exemplarisch für Zeitgenössisches eingeweiht wird, musizieren am 10. Oktober Lydia Weißgerber und Reimund Böhmig (Orgel). Fünf Uraufführungen stehen auf dem Programm, darunter zwei neue Stücke aus dem großen Orgelzyklus "Namen Gottes" von Jörg Herchet, einem der Gründungsmitglieder der SGNM.

(8.10.11)

Die Leichtigkeit der Anstrengung

Jubiläumskonzert des elole-Klaviertrios beim "Tonlagen"-Festival Hellerau

Die Zeitbestimmung bei Jubiläen ist selten aussagekräftig: was bedeuten überhaupt zehn Jahre? Angesichts der atemberaubenden musikalischen Präsenz des Dresdner elole-Klaviertrios, das in diesem Jahr genau diese Zeitmarke erreicht, überlegt man erstaunt - gab es elole nicht schon immer? Diese zeitlose Eleganz der Interpretation, der Respekt vor den Komponisten, der Musik, der überaus sympathische handwerkliche Aspekt, der sich auch noch in der dem Konzert anschließenden Feier offenbart, wenn die musikalische Arbeit als das eigentliche Fest postuliert wird? -

Man gratuliert einem Klaviertrio, dass es geschafft hat, in zehn Jahren nicht nur eine Perlenkette von Uraufführungen aneinanderzureihen, sondern das Genre selbst kraftvoll im 21. Jahrhundert ankommen zu lassen. Bewundernswert, dass der Weg des immer Neuen konsequent beschritten wurde; zu hoffen ist, dass das freie Ensemble zukünftig seine Qualität und Strahlkraft weiterhin innerhalb der Stadt als auch - und das ist längst überfällig - international entfalten kann. Das Jubiläumskonzert fand - mit Selbstverständlichkeit und Freude vom Veranstalter getragen - am Mitwoch während des Tonlagen-Festivals im Festspielhaus Hellerau statt.

Im Nancy-Spero-Saal gelang eine reizvolle musikalische Gegenüberstellung, die an die Anfänge des Trios zurückführte, denn zwei Werken aus dem ersten Konzert 2001 wurden zwei Uraufführungen derselben Komponisten zur Seite gestellt. Das Alte erklingt neu, das Neue wirkt plötzlich bekannt - so verblüffend einfach kann eine Konzertdramaturgie sein und so spannend gerät sie, wenn man um den Ernst und den gleichzeitigen Genuss in der Erarbeitung weiß, den Uta-Maria Lempert (Violine), Matthias Lorenz (Cello) und Stefan Eder (Klavier) den Werken angedeihen lassen. Ein gewisses Lustprinzip war bei der Auswahl der Stücke natürlich spürbar: mit allen drei Komponisten verbindet das Trio eine langjährige Beziehung und es teilt sich unmittelbar der Wille mit, die Besonderheiten der Stücke in klingende Botschaft umzusetzen.

Friedemann Schmidt-Mechau ("Sieben kleine Sätze" / "Nähe und Krümmung") etwa komponiert in klar abgestecktem Rahmen, um aber genau dessen Ränder zu erkunden, das Werk sogar kurz zu verlassen, um das Bewusstsein zu schärfen. Irritiert folgt der faszinierte Zuhörer dieser Trio-Achterbahn, die am Ende sogar noch einen fein ironischen Zug trägt. Michael Maierhofs ("Sugar 1" / "Exit E") Focus liegt im Gegensatz dazu völlig auf einer sprachbildenden Klangerzeugung, die jeglichen Bezug, jeglichen Verweis auf Bestehendes ausschaltet. Wiederum angenehm irritiert, dankt man für den Einstieg in eine Musikhöhle, in der es rattert und knarzt, und in der eine möglicherweise unerträgliche Gegenwart plötzlich in Geräuschen wieder einen Rückzugsort findet und Anstrengung eine überraschende Leichtigkeit erfährt.

Charlotte Seithers "Equal ways of difference" war hingegen ein vor allem formal sehr ansprechendes Stück, in dem ein zunächst ziellos wirkendes Materialkarussell nach und nach immer mehr Linearität und Beruhigung erfuhr. Diese ganzen Hörerfahrungen gründen einzig auf einer nur famos zu nennenden Interpretation. Einhelliger Jubel des Publikums war der Dank nicht nur für dieses Konzert, sondern für sehr viel Musik in zehn Jahren, denen hoffentlich weiterhin solch intensive, erhellende Jahre folgen werden.

Mehr elole: Homepage von elole
(6.10.11)

Ein Berg Arbeit

"Les Fleurs du Mal" von Klaus Schedl bei den Tonlagen Hellerau

Nach der festlichen Eröffnung des "Tonlagen"-Festivals im Festspielhaus Hellerau war der zweite Konzertabend augenscheinlich einem "leisen" Genre gewidmet - ein Liedzyklus war angekündigt. Doch weder huldigte man dem klassischen Genre des Klavierliedes noch war mit Charles Baudelaires "Les Fleurs du Mal" (1857-1868) eine sinnlich-romantische Vorlage gegeben. Wer den etwas lobhudelnden Programmtext im Voraus gelesen hatte, war auf "beherzte Musiker" und "fragile Apokalypsen" vorbereitet. Der in München lebende Komponist Klaus Schedl (geb. 1966) hat insgesamt sieben Gedichte Baudelaires vertont und diese Musik in die Hände des von ihm 1993 gegründeten Münchner Ensembles "piano possibile" gegeben.

Damit standen ihm kundige Instrumentalisten zur Verfügung, die weder Komplexität noch Innovation scheuen und in den sieben Liedern eine Interpretation formten, die für die Zuhörer vor allem nach einem Berg Arbeit aussah. Denn so eifrig sich die fünf Musiker und zwei Vokalisten auch mühten, der Anspruch, dass "der Gehalt, nicht die Worte" vertont würden, teilte sich in den 70minütigen Tiraden aus dichter zeitgenössischer Musik vermischt mit Live-Elektronik, Noise- und Punkelementen kaum mit. Baudelaire wurde so im Gesamteindrück wirklich auf das Böse, auf Schmutz, Schmerz und Ennui reduziert. Damit tut man aber dem Dichter keinen Gefallen und dem Publikum auch nicht, zumal die Darbietung von piano possibile in der klassischen Frontalanordnung mit hübschen blauen und roten Scheinwerfern in krassem Gegensatz zum bruitistischen Ansatz des Komponisten stand.

Auch die Interpretation ließ an einigen Stellen Wünsche offen: die beiden Vokalisten Sascha Friedl und Mafalda de Lemos konnten die erforderliche Bandbreite und Intensität des Ausdrucks stimmlich nicht befriedigend umsetzen; Schedls Schnitte und Zerstückelungen der Gedichte führten auch mehrfach zur Auslöschung von lyrischen Momenten, die als Chance in Rezitation oder Wortvertonung bestanden hätten. Daher blieben wenige kreative Augenblicke des Staunens als positiver Eindruck, dann nämlich, wenn Hass, Wut und Tränen eben keine musikalische Entsprechung als Gewaltausdruck im Lärmen fanden, sondern sich einzelne Töne und Geräusche verästelten oder verebbten.

Dass schließlich auch der bewusste Umgang mit musikalischer Zeit eine andere Ebene hervorgebracht hätte als das vertikale Vernieten von Geräuschphasen wäre der letzte Wunsch an diesen Liederzyklus gewesen, dann wäre auch Baudelaire in seiner ganzen Pracht des Höllengesangs wieder zum Vorschein gekommen.

(3.10.)

Entspannung und Leidenschaft

1. Kammerkonzert der Dresdner Philharmonie mit dem "Freien Ensemble Dresden"

Im elften Jahr seines Bestehens eröffnete das "Freie Ensemble Dresden" den Reigen der Kammerkonzerte der Dresdner Philharmonie auf Schloss Albrechtsberg. Das vom Cellisten Daniel Thiele geleitete Ensemble ist nicht nur "frei" in seiner oft außergewöhnlichen Werkauswahl, es läßt auch interessante, gemischte Kammermusikbesetzungen zu. Da die meisten Musiker der Dresdner Philharmonie angehören und das Ensemble schon auf eine reiche Konzerttätigkeit zurückblickt, dürfen sich die Zuhörer immer auf kompetente Darbietungen freuen. So war es auch am Mittwoch, als das Ensemble Klarinettentrios von der Klassik bis zur Gegenwart vorstellte.

Mit Werken von Beethoven, Bruch, Lischka und Zemlinsky war hier ein üppiges Programm angekündigt, doch die drei Musiker Fabian Dirr (Klarinette), Daniel Thiele (Cello) und Christoph Berner (Klavier) bewältigten die anspruchsvollen Stücke nicht mit äußerlicher Anstrengung, sondern mit auf gegenseitigem Verständnis beruhender Leichtigkeit. Den Beinamen "Gassenhauer" des Trios B-Dur Opus 11 von Ludwig van Beethoven strafte das Ensemble gleich Lügen, indem es vor allem die Schönheiten der ersten beiden Sätze bloßlegte: einem harmonisch bemerkenswerten Auftakt folgt einer der schönsten langsamen Sätze für diese Besetzung überhaupt, das machte die innige Interpretation klar. Der "Gassenhauer" selbst im Finale entpuppt sich als ökonomisch komponierter Variationssatz, der beim Freien Ensemble Klarheit und Musizierwitz vereinigte.

In den folgenden Stücken für Klarinettentrio aus Opus 83 von Max Bruch kam es hingegen auf große Bögen und die zu schaffenden Bilderwelten der Romantik an, hier beeindruckte vor allem die geschmackvolle "Rumänische Melodie", während der abschließende "Nachtgesang" wirklich zur reinsten Entspannung geriet. Der Dresdner Komponist Rainer Lischka hat für das Ensemble 2010 ein "Tritonus-Trio" komponiert, das im April dieses Jahres uraufgeführt wurde. Unabhängig vom sachlich formulierten Titel des Werkes bewegt sich das vorsichtig beginnende Stück schnell in Sphären von Jazz und Blues und formt dabei virtuos-dichte Höhepunkte, die an Bernsteins übermütigste Jahre erinnern. Faszinierend gerät, wie Lischka auf intelligente Weise Konzertmusik und improvisatorisch anmutende Lockerheit eines Jazz-Satzes verbindet; die Darbietung des Werkes gelang auf höchstem Niveau.

Nach der Pause war das Trio d-Moll von Alexander Zemlinsky eine Entdeckung, die Hörer und Spieler gleichermaßen forderte: allen drei Sätzen war eine immer wieder mal emphatisch, mal tragisch herausbrechende Leidenschaft zu eigen, die Dirr, Thiele und Berner jedoch stets mit ruhig atmendem Puls zu formen wussten. Solch kundige Interpretation wurde vom Publikum beglückwünscht und fand ihren Abschluss in einer Zugabe, einem weiteren, sehr kantablen Stück von Max Bruch.

(2.10.11)

Ein Kino im Westjordanland

Dresdner Sinfoniker eröffnen mit "Cinema Jenin" das Tonlagen-Festival

Wenn Markus Rindt, Intendant der Dresdner Sinfoniker, auf der Suche nach neuen Klängen durch die Welt reist, bleibt er selten lange allein. Zu sehr interessiert er sich für die Kultur, das Leben und vor allem die Musik in den betreffenden Ländern, sei es Tadschikistan, Ost-Anatolien oder Palästina. Aus den vielfältigen Kontakten entstehen Ideen und Visionen; manche müssen über Jahre wachsen und reifen, um Weltkulturen, Meinungen und auch die Finanzierung zusammenzubringen und Hindernisse à la "Markus, das ist doch völlig unmöglich" im Handstreich aus dem Weg zu räumen. Wer im letzten Jahr die anatolische Reise "Hasretim" der Dresdner Sinfoniker bei den Tonlagen Hellerau besuchen konnte, hat ein tiefgehendes Musikerlebnis, Musikverständnis aus Anatolien mitnehmen können.

In diesem Jahr wird das Tonlagen Festival mit einem neuen Projekt des experimentierfreudigen Ensembles eröffnet. Diesmal wenden sich die Sinfoniker Palästina zu, genauer: der Stadt Jenin im Westjordanland. Der persische Komponist und Kamancheh- (ein iranisches Streichinstrument) Virtuose Kayhan Kalhor schrieb als Auftragswerk für die Sinfoniker und den Dirigenten Andrea Molino "Cinema Jenin - A Symphony" - eine konzertante Hommage an das weltweit bekannt gewordene Kino in Palästina. Das neue Werk wird er mit dem Orchester und mit vier weiteren Solisten aus dem Iran, Ägypten, Israel und den USA zur Uraufführung bringen.

Weltbekannt wurde die Stadt Jenin durch das Schicksal Ismael Khatibs, der 2005 die Organe seines von israelischen Soldaten getöteten 11jährigen Sohnes Ahmed an israelische Kinder spendete. Diese großartige Geste der Versöhnung bildete nur drei Jahre später den Ursprung für den Wiederaufbau des Kinos in Jenin, das seit der ersten Intifada 1987 geschlossen und dem Verfall preisgegeben war. Rindt lernte den Dokumentarfilmer Marcus Vetter in Jenin kennen, der Khatibs Geschichte preisgekrönt verfilmt hatte und mit ihm das Kino wieder zum Leben erweckte. Gemeinsam mit Vetter und dem Produzenten Ben Deiß wurde die Idee geboren, die Geschichte des Kinos auch musikalisch zu begleiten und Musiker aus der Region dafür zu begeistern - zu Kayhan Kalhors Musik werden nun Szenen aus Marcus Vetters gerade entstehenden Dokumentarfilm „Cinema Jenin“ gezeigt.

Ein weiteres Werk Kalhors, "Silent City" wird darüber hinaus in einer speziell für die Sinfoniker entstandenen Version uraufgeführt - besonders spannend wird zu erleben sein, wie sich die Musiker hier mit der traditionellen persischen Musik, die ganz eigene Regeln und Skalen kennt, auseinandersetzen werden. Bereits um 18 Uhr können die Konzertbesucher im Festspielhaus den preisgekrönten Dokumentarfilm „Das Herz von Jenin“ von Marcus Vetter sehen.

-- Rezension des Konzertes: --

Heimkommen in der Musik
"Cinema Jenin - A Symphony" zur Eröffnung des "Tonlagen"-Festivals in Hellerau uraufgeführt

Der dritte Jahrgang des "Tonlagen"-Festivals in Hellerau wurde am Sonnabend mit einem Konzert der Dresdner Sinfoniker eröffnet. Zuvor wiesen Intendant Dieter Jaenicke und Bürgermeister Ralf Lunau in ihren Reden auf mehrere feierwürdige Jubiläen hin, die mit dem diesjährigen Festival verbunden sind: der 100. Geburtstag des Festspielhauses etwa, dessen Fassade zwei Tage vor der Festivaleröffnung fertiggestellt wurde. Neben der behutsamen denkmalpflegerischen Restaurierung ist nun auch wieder das Yin-und-Yang-Symbol im Giebel zu bestaunen. Außerdem finden - nach alter Zählung - die nunmehr 25. Tage der zeitgenössischen Musik statt, die 1987 von Prof. Udo Zimmermann begründet wurden und fundamental zur Entwicklung des Kunstortes Hellerau beigetragen haben. Schließlich werden die "Tonlagen" in diesem Jahr den Minimal-Komponisten Steve Reich ehren, der dieser Tage seinen 75. Geburtstag feiert.

Viele freudige Anlässe also, doch der musikalische Eröffnungsbeitrag geriet ernst, bewegend und auch politisch. Damit wurde ein Gegenzeichen gesetzt zur Unbekümmernis, in der die Musik der letzten Jahre sich zwar oft parallel, aber selten Position beziehend zu gesellschaftlichen und politischen Realitäten verhält. Die Sinfoniker lassen es selten dabei bewenden, die Welt lediglich musikalisch abzubilden, immer auch verbinden sich Botschaften, Visionen oder Experimente damit. In Zusammenarbeit mit dem Dokumentarfilmer Marcus Vetter, dem arabischen Kamancheh-Spieler und Komponisten Kayhan Kalhor und dem Produzenten Ben Deiß wurde die Musik zum Film "Cinema Jenin" entwickelt. Das seit der Intifada 1987 verwaiste Kino im Westjordanland wurde von Vetter und Ismael Khatib unter großen Mühen wiederaufgebaut und 2010 eröffnet. Der Film zeigt nicht nur den Wiederaufbau und den komplexen Hintergrund dieses Projekts, sondern macht die besondere Position des Kinos in der von Krieg und Attentaten gebeutelten Stadt im Westjordanland deutlich. Keinesfalls geriet die Kino-Eröffnung zum Triumph, denn bei Vorführungen wurde über das Tragen von Waffen und die Bedeutung von Frieden und Freiheit intensiv debattiert. Doch damit manifestierte sich gleichzeitig der humanistische Akt des Wiederaufbaus: wo Menschen wieder miteinander reden, ist auch Frieden, ist Kultur möglich. Insofern geriet die Präsentation des Films gemeinsam mit der faszinierenden Musik von Kalhor zu einem tief bewegenden Erlebnis. Fast schon symbolisch wirkte da, dass der noch nicht ganz fertiggestellte Film von Vetter nur in Ausschnitten zu sehen war - das Unfertige, Unruhige der Region wurde so gleich noch einmal gespiegelt.

Wahre Beruhigung, eine Art Heimkommen im Klang strahlte indes Kalhors Musik aus. Mit Shane Shanahan (Percussion), Kamil Shajrawi (Oud), Sa'ad Mohamed Hassan (arabische Violine) und Ali Bahrami (Bass-Santour) war ein internationales Solistenensemble beteiligt. Die in Streicherbesetzung spielenden Sinfoniker agierten in dieser Partitur mehr als Background für die Stimmungen, die die Solisten mit virtuosen Arabesken auslösten. Dirigent Andrea Molino hatte zuvor schon "Silent City" von Kayhan Kalhor geleitet, ein Werk, dass im Gedenken an ein Kurdenmassaker an der iranisch-irakischen Grenze geschrieben wurde und eindrücklich Trauer und Hoffnung in einem Stück verband. Dabei waren die Sinfoniker auch in ihrem Improvisationstalent gefragt, denn zwei Drittel des Stückes wurden "live" in den Proben ohne Noten erarbeitet. Mit dem letzten Akkord des beschwingten Schlusstanzes dieses Werks versagte Molino, der ohnehin mit ganzem Körpereinsatz dirigierte, das linke Bein seinen Dienst - doch er konnte "Cinema Jenin" nach der Pause sitzend, doch gleichwertig beseelt, interpretieren. Dafür dankte ihm das Publikum besonders herzlich, wie überhaupt der ganze Abend zu einem nachdrücklichen Erlebnis geriet.

(2.10.11)

Körperarbeit und Koch-Kanons

Zwei Uraufführungen bei "Rhythmik 100 Hellerau"

Es gibt Grund zum Feiern: genau 100 Jahre sind seit der Grundsteinlegung im Festspielhaus Hellerau vergangen, seitdem hat das Haus eine wechselvolle Geschichte erfahren. Seit dem Ende der DDR, der Restaurierung des Hauses selbst und dem Einzug des Europäischen Zentrums der Künste lebt der schöpferische Geist der Anfangsjahre im Haus wieder auf: Tanz, Musik und Bühne haben in vielfältigen Formen Einzug gehalten - Hellerau gilt heute international als Spielort und Labor der Moderne. Indes weist das seit zehn Jahren aktive Institut für Rhythmik Hellerau e. V. auf die revolutionäre Bewegung der ersten Jahre zurück: der Schweizer Komponist und Musikpädagoge Émile Jaques-Dalcroze installierte 1911 schon auf der Baustelle in Hellerau sein rhythmisch-gymnastisches Bildungsinstitut und leistete Pionierarbeit mit über 500 Schülern.

Grund genug, nach 100 Jahren mit der Internationalen Werkstatt "Rhythmik 100 Hellerau" zurückzublicken, aber auch einen Einblick in die Gegenwart zu geben und in Symposien, Workshops und Aufführungen Rhythmik lebendig erlebbar zu machen. Am Donnerstagabend erlebten unter großer Beteiligung der Teilnehmer gleich zwei neue Werke ihre Uraufführung, die in einem sehr straffen Probenprozess zuvor in Hellerau erarbeitet wurden:

Der Berliner Komponist Dieter Schnebel (*1930) scheint für ein Rhythmik-Projekt an diesem Ort geradezu prädestiniert, setzt er sich doch seit Jahrzehnten mit den Klang-Möglichkeiten von Stimme und Körper schöpferisch auseinander. So erschien "Sprechende Körper. Körper-Sprache" eben nicht als musikalisches Werk, sondern vor allem als optische, offene Partitur. Der Interpret mit allen seinen Möglichkeiten der Bewegung und Klangerzeugung wirkt als Instrument, als "Äußerer" von zu schaffender Sprache. In der Fassung mit acht Darstellern, behutsam von Annette Jahns und Christian Kesten (Regie) geführt, gelang hier ein fast meditativ bewegtes Bild, in welchem auch Steigerungen und Exzesse kontrolliert und spielerisch, aber eben nicht verspielt wirkten.

Dem gegenüber bildete Manos Tsangaris (*1956) "Vivarium - Reisen, Kochen, Zoo..." für Bewegung im Raum, Stimmen, Instrumente und Licht den denkbar größten Kontrast zu Schnebels Laboratorium. Tsangaris rhythmische Wirklichkeit ist eine gegenwärtige, von Umwelt, Menschen, Natur und Zeitfluss stark beeinflusste Welt, die bisweilen chaotisch wirkt und offenbar auch sozialkritische Fragen stellen möchte. Vieles bleibt hier als plötzliche Szene im Raum stehen, und es stellt sich angesichts von Kochutensilien-Kanons schneller die Sinnfrage als bei Schnebels von vornherein in der Abstraktion verbleibenden Körper-Arbeit. Manchmal kippt so bei Tsangaris komponierter Kitsch und Performance in eine bedenkliche Extrovertiertheit, seltsam unscharf bleibt der musikalische Anteil aus wenigen Solostimmen und Instrumenten. Unbestritten ist die hervorragende Leistung der zahlreichen Teilnehmer zu würdigen: den Rhythmikern (mit Gruppen aus der Schweiz und Taiwan), dem Ensemble "El Perro Andaluz" unter Leitung von Lennart Dohms sowie Goldfisch, Hunden und echten und falschen Paparazzi aus dem Publikum.

Als Auftakt für die 11. Rhythmikwerkstatt waren diese beiden Uraufführungen gut dazu geeignet, auch für ungeübte Zuhörer einen frischen Zugang zur Rhythmik zu bekommen, gleichzeitig den Umgang von Komponisten und Darstellern mit Sprache, Körper und Raum zu erfahren und vielleicht auch, wieder etwas vom künstlerischen Geist zu atmen, der bereits 1911 das Festspielhaus durchwehte und von dort in alle Welt getragen wurde.

Pergolesi aufgehübscht

1. Aufführungsabend der Staatskapelle mit Werken von Auerbach und Beethoven

Frische Klänge dringen dieser Tage aus dem Semperbau, denn die Musiker der Sächsischen Staatskapelle Dresden starten ebenso wie das Gesangsensemble und das Ballett in die neue Konzertsaison. Das Orchester war zum ersten Mal am Mittwoch im 1. Aufführungsabend zu erleben. Die Aufführungsabende gehören zur vom Orchester selbst veranstalteten Kammermusik und ergänzen die großen Sinfoniekonzerte um spannende, kleiner besetzte Entdeckungen des Repertoires, musiziert unter Beteiligung von Solisten aus dem Orchester und jungen Dirigiertalenten. So war auch es auch in diesem Konzert. Der erst 22jährige usbekische Dirigent Aziz Shokhakimov hatte zunächst die besondere Aufgabe, dem Publikum ein Werk der neuen Capell-Compositrice Lera Auerbach vorzustellen: Die 37jährige russisch-amerikanische Komponistin weist eine rasante Biographie auf, schrieb im Alter von 12 Jahren ihre erste Oper und man nimmt wahr, oft die Worte "Karriere" oder "Erfolg" mit ihr in Verbindung zu lesen, was für Komponisten allerdings selten als Erklärung für Meisterschaft herhalten sollte.

Auerbach, die bald drei neue Auftragswerke in Kapell-Konzerten vorstellen wird, führte sich mit den 2005 entstandenen "Dialogues on Stabat Mater" ein. Das Werk ist eine instrumentale Übertragung des berühmten geistlichen Werkes von Giovanni Battista Pergolesi zu einer Art Concerto Grosso. Leider blieb der Eindruck blass, zuweilen sogar verstörend. Das Original hätte mehr fasziniert, denn Auerbach verwischte und bearbeitete lediglich einige Kadenzen und Sequenzen, fügte hier und da dramatisch scheinende Cluster und ein solistisches Stimmungs-Vibraphon hinzu, während Solo-Violine und Viola mal die Gesangspartien ersetzten, mal die Sequenzen dramatisierten. Diese instrumentale Aufhübschung traf sicher den Publikumsgeschmack, war aber von einer intensiven, zeitgenössischen Äußerung einer im Stil auch wahrzunehmenden Komponistenstimme (wie es unlängst Isabel Mundry mit den eindrucksvollen "Scandello-Verwehungen" gelang) meilenweit entfernt. Eine Neukomposition eines "Stabat Mater" hätte vermutlich andere Ergebnisse hervorgebracht als diese simplen Schmerzbilder, die die Komponistin hier unter Hinzufügung einiger Dissonanzen einarbeitete.

Shokhakimov, die Solisten Jörg Faßmann, Sebastian Herberg und Christian Langer und das Orchester setzten sich sehr engagiert für das Stück ein, allerdings stellte die oft romantisiert aufgeladene Interpretation ein weiteres Problem zwischen den Zeiten dar. Es wäre schade, wenn die Partnerschaft mit dem KlangNetz Dresden, die die Einrichtung des Capell-Compositeurs begründete, nun mit dem Schielen nach der bequemen Quote ausliefe, anstelle mit Mut zur Auseinandersetzung gewichtigen Komponistenstimmen der Gegenwart ein Podium zu bieten.

Nach der Pause leitete Aziz Shokhakimov die 1. Sinfonie C-Dur von Ludwig van Beethoven und unterstrich mit selbstbewusster und gewitzter Interpretation sein Talent. Der 1. Satz war nach schöner Einleitung transparent und munter musiziert, das Andante gelang sorgfältig. Scherzo und Finale waren von rasanter Lesart, doch Shokhakimov konnte sich der jederzeit auf den Punkt musizierenden Kapelle gewiss sein. So entstand ein feuriges Spiel mit zahlreichen nach Mannheim grüßenden "Raketen" im letzten Satz - Shokhakimov wurde dafür mit Recht vom Publikum gefeiert.

(27.8.11)

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