Dienstag, 21. Mai 2013

Vulkanischer Klangrausch

Magnus Lindbergs "KRAFT" mit den New Yorker Philharmonikern

Sie können auch anders. Und wie! Das erste Konzert der New Yorker Philharmoniker in Dresden war ein glanzvoller Abend innerhalb der Welt der klassischen Konzertmusik. Am Dienstagabend zog das Orchester mit Mann und Maus (und das ist angesichts des riesigen Instrumentariums fast wörtlich zu nehmen) in die VW-Manufaktur, um Musik des 20. und 21. Jahrhunderts vorzustellen. Das gelang keinesfalls mit dem Pflichtanspruch, das ein Orchester "auch mal" neue Musik zu spielen hätte, sondern mit höchster Spielfreude, Neugier am Experiment und der unbedingten Bereitschaft, logistische und kreative Grenzen zu überschreiten, um Unmögliches möglich zu machen.

Dem ersten Teil des Konzertes kam dabei mehr Bedeutung als ein bloßes "Warming Up" zu - mit Christopher Rouse war der aktuelle Composer in Residence der New Yorker Philharmoniker vertreten. Sein kurzes Stück "Prospero's Rooms" mutete - in schnellen Tempi verschiedene Bilderwelten ineinander montierend - wie eine Traumsequenz an. Die Musik scheut sich nicht, in dicken Farben zu malen oder den Zuhörer mit bekannten, oft der Popularmusik entlehnten Stilmitteln an die Hand zu nehmen. Das Ergebnis war bei aller Pluralistik dennoch überzeugend, weil Rouse vor allem die musikalische Zeit mit ordentlich Spannung anfüllte. Akustisch gesehen war hier das Streichorchester der Verlierer des Abends - Chefdirigent Alan Gilbert kitzelte natürlich aus dem gerade einen Monat alten Stück eine sehr gute Interpretation heraus, doch gerade die Streicher gingen in der Akustik im Tutti völlig unter.

Ganz anders war die Situation in Leonard Bernsteins "Serenade nach Platos Symposium" für Violine, Streichorchester, Harfe und Schlagwerk. Das in Bernsteins Werkkatalog ungewöhnlich intim anmutende Stück wurde von Joshua Bell als Solist mit höchst sensibler Klanggestaltung für Raum und Werk angeleitet. Gilbert fügte den hier im Vordergrund stehenden, delikaten Streicherklang und ebenfalls toll ausgehörtes Schlagwerk hinzu - eine wunderbare Hommage an den großen Dirigenten und Komponisten gelang, dessen Name untrennbar mit dem New York Philharmonic Orchestra verbunden ist.

Nach der Pause erwartete man mit Hochspannung das Ereignis des Abends, das sich bereits vor dem ersten Ton schon optisch in der ganzen Manufaktur ausbreitete. Der finnische Komponist Magnus Lindberg ist ein Virtuose auf dem Instrument Orchester; für das Stück "KRAFT" aus dem Jahr 1985 zog er nahezu alle Register und richtete für die Dresdner Aufführung eine spezielle Fassung ein, die im Schlagwerk Autoteile wie Federn, Felgen und alle Arten von Metall vereinte (der obligatorische Hinweis sei erlaubt: Liebe Kinder, bitte nicht nachmachen!). Ein großes Chassis hing kopfüber über dem Orchester, riesige Gongs und Schlagwerkaufbauten verteilten sich rings um das Publikum.

Lindberg hätte das Stück auch STROM nennen können, denn elektrisiert war nicht nur das Publikum von den ersten lärmenden Klängen an, auch die Musiker hatten einiges an "Agility" zu absolvieren - Raumklang, Stimme, Wassermusik und viele gleichzeitig verlaufende Schichten im ganzen Orchester erzeugten ein 3D-Erlebnis, bei dem alle Sinne gefordert waren. Dass die Solisten - Cello, Klarinette, drei Schlagzeuger und Lindberg selbst an Klavier, Gongs und Felge - samt Dirigent weiße Arbeitsanzüge trugen, war hier nicht nur ein Effekt, sondern beförderte den Gedanken eines absolut kreativen Arbeitsprozesses, dessen Ergebnis unglaubliche Klangkaskaden waren, die auch noch von einem der weltbesten Orchester dargeboten wurden.

Am Ende hatte man klingelnde Ohren und das merkwürdige Glücksgefühl, dass in all dieser Betriebsamkeit und Lautheit eben durch den intellektuellen Akt der hochkomplexen Komposition (dank der Internetaufzeichnung ist ein Wiederhören und -sehen möglich) eine verborgene Schönheit auffindbar war, die - gerade die irrealen akzentuierten Metall-Hiebe vor dem leise versiegenden Finale machten das deutlich - lange nachwirken konnte und das Gefühl gab, einen Besuch im Kern eines ausbrechenden Vulkans überlebt zu haben.


* die Konzertaufzeichnung ist über http://www.medici.tv noch 90 Tage im Internet abrufbar.

Trackback URL:
https://mehrlicht.twoday.net/stories/404101646/modTrackback

mehrLicht

Musik Kultur Dresden

Aktuelle Beiträge

Sie haben ihr Ziel erreicht.
Liebe Leserin, lieber Leser dieses Blogs, sie haben...
mehrLicht - 20. Jul, 12:04
Ein Sommer in New York...
Was für eine Überraschung, dieser Film. Der Uni-Professor...
mehrLicht - 19. Jul, 21:53
Sturmlauf zum Schlussakkord
Albrecht Koch beim Orgelsommer in der Kreuzkirche Auch...
mehrLicht - 14. Jul, 18:54
Wenn der "innere Dvořák"...
Manfred Honeck und Christian Tetzlaff im 12. Kapell-Konzert Mit...
mehrLicht - 14. Jul, 18:53
Ohne Tiefgang
Gustav Mahlers 2. Sinfonie im Eröffnungskonzert des...
mehrLicht - 14. Jul, 18:51
Sich in Tönen zu (ent-)äußern
Staatskapelle Dresden spielt Schostakowitschs "Leningrader"...
mehrLicht - 14. Jul, 18:50
Chopins Cellowelten
Kammerkonzert der Dresdner Philharmonie mit Sol Gabetta Für...
mehrLicht - 14. Jul, 18:48
Fest der Klangfarben
Saisonabschluss der Dresdner Philharmonie im Albertinum Verklungen...
mehrLicht - 14. Jul, 18:46

Lesen!

Hören!

van anderen

Instagram Filter, 19. Jahrhundert
Kreidler - 14. Mär, 04:54
„Die KI macht bereits einen Großteil meines Arbeitsalltags aus“
Künstliche Intelligenz (KI) ist in aller Munde...
owy - 13. Mär, 11:17
Kleine Fellmusterkunde
Sharing to educate cause not enough people know [image...
Kreidler - 13. Mär, 04:54
Liste der verbotenen Wörter unter Trump
Es gehört wirklich zu den bittersten und auch dümmsten...
Kreidler - 12. Mär, 04:52
Courses in Basel 24
today's lesson #compositionclass [ image or...
Kreidler - 11. Mär, 12:49
Minusbolero @Deutschlandfunk
Zum 150. Geburtstag von Maurice Ravel hat Deutschlandfunk...
Kreidler - 10. Mär, 04:47

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

stuff

PfalzStorch Bornheim Pinguin-Cam Antarktis
Conil de la Frontera
Kram Blogverzeichnis - Blog Verzeichnis bloggerei.de

Status

Online seit 7022 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:08

Credits


Dresden
hörendenkenschreiben
nuits sans nuit
Rezensionen
Weblog
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren