Kan Kun
zu meiner Uraufführung "Kan Kun" (11. Februar, Dresdner Kammerchor, Ltg. Hans-Christoph Rademann) stelle ich hier den Programmhefttext zur Verfügung.
Kan Kun für gemischten Chor (2015/2016)
»Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«
— Paulus, 1. Brief an die Korinther, 13
Sehr früh stand als Motto für das vierte Jubiläumskonzert des Dresdner Kammerchores das Motto „Dresdner Stimm/ung/en“ fest, auf das ich mich auch explizit bei der Komposition beziehen wollte. Wie es bei meinen Stücken meistens der Fall ist, konstruiere ich nicht einen Bezug oder Zusammenhang, sondern die Texte und Hintergründe springen mich meist an, hinterlassen einen Klang oder eine schlaglichtartige Struktur, ein Nachwirken, das sich auf das Papier bahnt So wurde ich auf das Projekt „Glaube, Liebe, Hoffnung - Nachrichten aus dem christlichen Abendland“ des Digitalen Textkollektivs „0x0a“ (Hannes Bajohr, Gregor Weichbrodt) aufmerksam. Über ein Scraping-Script hat 0x0a über mehrere Monate Kommentare der facebook-Pegida-Seiten gesammelt. Es entstand ein Textkorpus von über 282.000 Kommentaren, die ungefiltert gesammelt wurden und als Datenbank jedem zur Verfügung stehen.
Später wurden Kommentare mit einem Filter versehen, der den Äußerungen ein Gegenüber verleiht: „Indem die angeblichen Verteidiger des christlichen Abendlandes mit den paulinischen Tugenden von »Glaube, Liebe, Hoffnung« konfrontiert werden, lassen wir sie selbst artikulieren, was sie glauben, lieben und hoffen. Dass vor allem Deutschland geliebt wird, überrascht weniger als die Wünsche der Kommentatoren, die von Umsturz- und Gewaltfantasien bestimmt sind.“ (0x0a) - Der 1. Satz meines Stücks „Kan Kun“ ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Textkorpus. Weniger ist es eine Vertonung denn eine willkürlich-willentliche Auswahl von etwa 260 Kommentaren, die von den 36 Stimmen in Stimmung und Wort-Klang umgesetzt werden. Dabei ist der Inhalt in dieser Massierung fast zweitrangig, viel mehr interessierte mich bei der Umsetzung die erlebte Tatsache der permanenten und in unserer Informationsgesellschaft allgegenwärtigen Äußerung - der Aktion, der ständig eine Reaktion folgt, und in deren Massierung Undeutlichkeit, Verformung und Überforderung entstehen.
Diese Aufhäufung erzeugt wiederum einen Klang, einen Ausdruck. Zu den individuellen Äußerungen gesellen sich Parolen, die Dresdner derzeit Woche für Woche auf der Straße hören, doch auch diese sind verfremdet vertont: durch die ausschließliche Benutzung von Anagrammen dieser Hetzrufe entstehen zwar neue Bedeutungen, die Geste allerdings bleibt gleich. Das Wort-Klangstück wird schließlich wie im Textkorpus selbst vom Chor mit dem Korintherbrief konfrontiert - ich habe allerdings nicht den 13. Vers wiederholt, sondern mit den davor stehenden Versen 9 und 12 eine weitere Ebene der Deutung - Stückwerk und Spiegel - eingebracht.
Im 2. Satz wird erneut ein Klang unserer Zeit gesucht, hier ist es ein Tweet (eine 140-Zeichen-Nachricht aus dem sozialen Netzwerk Twitter) des französischen Premierministers Manuel Valls, der einen Tag nach den Anschlägen von Paris, am 14. November 2015, der Welt verkündete: „Wir sind im Krieg. Wir ergreifen außergewöhnliche Maßnahmen. Und diesen Krieg werden wir gewinnen.“ - Die innere Ambivalenz dieser Äußerung stellt der Chor in einer Nachzeichnung dar, der Chor wird hier selbst zum Hörer, der daraus ein sich in immer neuer Weise „zuschnürendes“ Gefühl formt.
Schließlich - auch das ist eine „Dresdner Stimm/ung/e“ - wird im dritten Satz mit einem chinesischen Gedicht der Blick nach innen gerichtet. Das Bild des „stummen Äugens über das Land“ kann Kontemplation bedeuten, es umfasst aber auch das pure Grauen, wenn dieses Land tatsächlich nur noch im Wunschdenken des inneren Auges existieren sollte. Eine Flucht nach innen erscheint sinnlos, weil wir das Außen mit nach innen nehmen, und umgekehrt. „Kan Kun“ - das achte Hexagramm im I Ging, erschien mir schließlich als thematische Klammer und Titel auf der Hand liegend. In diesem Hexagramm liegt das Wasser über der Erde - beides bedingt einander und sichert Stärke: Kan Kun - das Zusammenhalten.
Ich danke Hannes Bajohr und Gregor Weichbrodt.
Textkorpus „Glaube, Liebe, Hoffnung“
(c) Alexander Keuk
Kan Kun für gemischten Chor (2015/2016)
»Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«
— Paulus, 1. Brief an die Korinther, 13
Sehr früh stand als Motto für das vierte Jubiläumskonzert des Dresdner Kammerchores das Motto „Dresdner Stimm/ung/en“ fest, auf das ich mich auch explizit bei der Komposition beziehen wollte. Wie es bei meinen Stücken meistens der Fall ist, konstruiere ich nicht einen Bezug oder Zusammenhang, sondern die Texte und Hintergründe springen mich meist an, hinterlassen einen Klang oder eine schlaglichtartige Struktur, ein Nachwirken, das sich auf das Papier bahnt So wurde ich auf das Projekt „Glaube, Liebe, Hoffnung - Nachrichten aus dem christlichen Abendland“ des Digitalen Textkollektivs „0x0a“ (Hannes Bajohr, Gregor Weichbrodt) aufmerksam. Über ein Scraping-Script hat 0x0a über mehrere Monate Kommentare der facebook-Pegida-Seiten gesammelt. Es entstand ein Textkorpus von über 282.000 Kommentaren, die ungefiltert gesammelt wurden und als Datenbank jedem zur Verfügung stehen.
Später wurden Kommentare mit einem Filter versehen, der den Äußerungen ein Gegenüber verleiht: „Indem die angeblichen Verteidiger des christlichen Abendlandes mit den paulinischen Tugenden von »Glaube, Liebe, Hoffnung« konfrontiert werden, lassen wir sie selbst artikulieren, was sie glauben, lieben und hoffen. Dass vor allem Deutschland geliebt wird, überrascht weniger als die Wünsche der Kommentatoren, die von Umsturz- und Gewaltfantasien bestimmt sind.“ (0x0a) - Der 1. Satz meines Stücks „Kan Kun“ ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Textkorpus. Weniger ist es eine Vertonung denn eine willkürlich-willentliche Auswahl von etwa 260 Kommentaren, die von den 36 Stimmen in Stimmung und Wort-Klang umgesetzt werden. Dabei ist der Inhalt in dieser Massierung fast zweitrangig, viel mehr interessierte mich bei der Umsetzung die erlebte Tatsache der permanenten und in unserer Informationsgesellschaft allgegenwärtigen Äußerung - der Aktion, der ständig eine Reaktion folgt, und in deren Massierung Undeutlichkeit, Verformung und Überforderung entstehen.
Diese Aufhäufung erzeugt wiederum einen Klang, einen Ausdruck. Zu den individuellen Äußerungen gesellen sich Parolen, die Dresdner derzeit Woche für Woche auf der Straße hören, doch auch diese sind verfremdet vertont: durch die ausschließliche Benutzung von Anagrammen dieser Hetzrufe entstehen zwar neue Bedeutungen, die Geste allerdings bleibt gleich. Das Wort-Klangstück wird schließlich wie im Textkorpus selbst vom Chor mit dem Korintherbrief konfrontiert - ich habe allerdings nicht den 13. Vers wiederholt, sondern mit den davor stehenden Versen 9 und 12 eine weitere Ebene der Deutung - Stückwerk und Spiegel - eingebracht.
Im 2. Satz wird erneut ein Klang unserer Zeit gesucht, hier ist es ein Tweet (eine 140-Zeichen-Nachricht aus dem sozialen Netzwerk Twitter) des französischen Premierministers Manuel Valls, der einen Tag nach den Anschlägen von Paris, am 14. November 2015, der Welt verkündete: „Wir sind im Krieg. Wir ergreifen außergewöhnliche Maßnahmen. Und diesen Krieg werden wir gewinnen.“ - Die innere Ambivalenz dieser Äußerung stellt der Chor in einer Nachzeichnung dar, der Chor wird hier selbst zum Hörer, der daraus ein sich in immer neuer Weise „zuschnürendes“ Gefühl formt.
Schließlich - auch das ist eine „Dresdner Stimm/ung/e“ - wird im dritten Satz mit einem chinesischen Gedicht der Blick nach innen gerichtet. Das Bild des „stummen Äugens über das Land“ kann Kontemplation bedeuten, es umfasst aber auch das pure Grauen, wenn dieses Land tatsächlich nur noch im Wunschdenken des inneren Auges existieren sollte. Eine Flucht nach innen erscheint sinnlos, weil wir das Außen mit nach innen nehmen, und umgekehrt. „Kan Kun“ - das achte Hexagramm im I Ging, erschien mir schließlich als thematische Klammer und Titel auf der Hand liegend. In diesem Hexagramm liegt das Wasser über der Erde - beides bedingt einander und sichert Stärke: Kan Kun - das Zusammenhalten.
Ich danke Hannes Bajohr und Gregor Weichbrodt.
Textkorpus „Glaube, Liebe, Hoffnung“
(c) Alexander Keuk
hörendenkenschreiben mehrLicht - 12. Feb, 18:36
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