Mittwoch, 13. Oktober 2010

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Mikrotonale Beben

Ensemble Resonanz präsentiert Werke für Streicher bei den Tonlagen Hellerau

Nach einer bunten ersten Woche der "Tonlagen" im Festspielhaus Hellerau präsentierte sich das Haus am Sonntagabend zumindest optisch entschlackt: für das Konzert des Hamburger Ensembles Resonanz gab es weder Tanzboden noch Trockeneis, auch die Lichtorgel schwieg. Nur Stühle und Notenpulte waren aufgebaut, die von einem bevorstehenden Abend kündeten, der diese "nackte", oftmals ungleich stärkere Wirkung der Musik bereits im Titel verbarg: "Open Spaces". Vielleicht ist dies auch eine der anspruchsvollsten Darbietungsformen Neuer Musik, denn in der Genreverschränkung des Musik- oder Tanztheater können sich Auge und Ohr gut die Arbeit aufteilen. Doch hier waren verschärfte Bedingungen: nicht nur fehlte das stets präsente "ON"-Fiepen einer arbeitenden Technik im Ruhezustand der Musik, auch wurden ganze Instrumentengruppen dem Publikum vorenthalten: sechs Stücke nur für Streicher, davon gleich zwei Uraufführungen.

Der Anspruch blieb hoch, die Qualität der Stücke allerdings ebenfalls, die Interpretation sucht seinesgleichen und so hatten die Besucher des Konzertes am Ende allen Grund zum Applaus. Denn allen Werken gemeinsam war, dass die Komponisten den Korpus "Streicherensemble" als eigenes Instrument handhabten und damit fleißig experimentell oder konzeptuell umgingen.

Iannis Xenakis kompaktes "Aroura" machte schon fast als Klassiker den Auftakt und gab die Räumlichkeiten vor, die Georg Friedrich Haas dann am Ende in "Open Spaces II" mühelos sprengte. Ohnehin lohnt in struktureller Hinsicht das Nebeneinanderstellen dieser beiden Grenz-Werker, die in gewisser Hinsicht verschiedene Quartiere desselben Ortes bearbeiten. Das Programm zum Mittelpunkt verfolgend erklangen weitere vier Kompositionen, die sich vor allem in einer dichten, aber im jeweiligen Stil konsequenten Materialbehandlung ähnelten.

Alessandro Perinis "Exploración de la biblioteca de Babel" fiel allerdings in einer bruchstückhaften, manchmal zu offen expressiv daliegenden Gestik heraus aus dem Reigen und war dennoch das am schwierigste geistig nachzuvollziehende Stück des Abends. Beat Furrers "Xenos III" bildete dann fast das Gegenstück dazu: Dirk Rothbrust und Thomas Meixner traten als Schlagzeuger hinzu und formte gemeinsam mit dem Ensemble eine Meta-Ebene der Sprache hinter dem zugrundeliegenden Text von Händl Klaus, dieser Teil wurde dann in einer zweiten Schicht noch einmal in emotionale sprachlose Regionen tiefergeführt. Benjamin Schweitzers "holzschnitt" führte das Streichorchester auf originelle Weise zurück zu den Ursprüngen und bewies, dass ausgehörte Klanglichkeit keine Frage der Massierung von Effekten ist.

Einen ungemein poetischen Beitrag leistete Michael Hirsch mit "Rezitativ und Arie" für Claves (Hölzer) und Streicher, bei dem man meint, ein virtuelles Opernfragment durchschimmern zu hören, dass eben nur in einem erinnerten Rhythmus oder schemenhaften Vorbeihuschen existiert. Dass alle diese Streichergeschichten so plastisch wurden, liegt an der exzellenten Darbietung des Ensemble Resonanz unter Leitung von Beat Furrer, die am Schluss wirkungsvoll die Planeten von Georg Friedrich Haas mikrotonal erbeben ließen.

Bewegender Brückenschlag

"Hasretim - eine anatolische Reise" mit den Dresdner Sinfonikern bei den Tonlagen Hellerau

Es ist schon eher eine Seltenheit, dass sich die Dresdner Sinfoniker eine fertige Partitur aufs Dirigentenpult legen. Neben dem musikalischen Ergebnis zählt immer der Innenblick in musikalische Kulturen, die wir viel zu selten zu Gehör bekommen. Die Sinfonikerkonzerte sind mit lange gehegten und mit Nachdruck verfolgten Ideen verbunden, für die Initiator und Intendant Markus Rindt einsteht.

So entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum der Künste Hellerau das Projekt "Hasretim - eine anatolische Reise", das am Samstag bei den Tonlagen im Festspielhaus Hellerau uraufgeführt wurde. Wie zeitaktuell das Werk war, läßt sich anhand der Terminlage verdeutlichen: tags zuvor spielte die Nationalmannschaft in Berlin gegen die Türkei, zudem war der türkische Ministerpräsident Erdogan bei der Kanzlerin zu Gast. Eine Integrationsdebatte wird auf politischer Ebene schon lange im Land geführt. Dass dazu zwingend auch die inspirative, auch experimentell geführte Auseinandersetzung zwischen den Kulturen gehört, ist die wichtige Botschaft des Konzertes - Erdogan und Merkel wären sicher gern gesehene Gäste von "Hasretim" gewesen und sie hätten lernen können, wie bewegend sich über die Musik Sprachen, Bräuche und Menschen verbinden lassen.

Über einen längeren Zeitraum fuhr Rindt mit dem deutsch-türkischen Komponisten und Musiker Marc Sinan und einem Kamerateam an die Schwarzmeerküste und in den inneren Nordosten der Türkei und zeichnete die Gesänge und Tänze der Einheimischen auf. Es zählte nicht unbedingt der musikethnologische Anspruch, dafür ist die musikalische Landkarte zu vielschichtig. Was entstand, ist eine Art tönendes Skizzenbuch der Reise, das in Konzertform mit Video und großem Kammerensemble wieder neu zusammengesetzt wurde. Dabei wurde die Reiseroute zwischen Ordu, Erzurum und Kars beibehalten - seien wir ehrlich, kennt einer der bekennenden Türkeiurlauber diese auch historisch bedeutsamen Orte überhaupt? Geschweige denn die Musik, die über die Generationen hinweg weitergetragen wurde und die hoffentlich als kulturelles Erbe auch erhalten wird. "Hasretim" leistete dazu einen wertvollen Beitrag.

Marc Sinan schuf eine Partitur, die zwischen den Originalaufnahmen und der Live-Musik des Ensembles changierte, sich aber nur selten wesentlich vom Charakter der Volksmusik entfernte, lediglich ein jazziges Klaviersolo wirkte etwas eigenartig im Zusammenhang. Im Gesamteindruck hätte eine bessere Verstärkung einiger Instrumente (Flöte, Kaval, Streicher) die Strukturen noch transparenter gemacht. Sinans Musik zeichnet behutsam nach und hat damit die Wirkung eines Spiegels oder Kommentars, zudem funktionierte die "Integrationspolitik" im Orchester einwandfrei: türkische und armenische Gastmusiker saßen mit im Ensemble; die Kollegen der Sinfoniker indes hatten die respektable Aufgabe, sich fernab einer wohltemperierten Stimmung auf Skalen und Strophenlieder einzulassen, für die spezielle Spielarten gefunden werden mussten.

Was nämlich beim Lieblingstürken um die Ecke basslastig aus dem Lautsprecher dröhnt, ist maximal noch ein skelettartiger Rest der reichen musikalischen Kultur Anatoliens. Das wird allein schon angesichts der Instrumente klar, die sich in Hellerau auf der Bühne einfanden: Saz, Ud, Kavel und Kemence, dazu die beiden hinreißenden Duduk/Zurma-Spieler, die schon im letzten Jahr zur Terterjan-Sinfonie begeisterten. Der italienische Dirigent Andrea Molino hatte wesentlichen Beitrag zur Zusammenstellung des Werkes geleistet und koordinierte Bild und Ton in der Aufführung sicher zusammen. Das Videozuspiel (Filip Zorzor, Lonni Wong) wirkte manchmal zu verspielt, dadurch wurde die intensive Wirkung des Authentischen leicht verwischt. Das tat aber der hervorragenden Aufführung keinen Abbruch; dankbar nahm das Hellerauer Publikum diesen kulturellen Brückenschlag entgegen und feierte anschließend ausgelassen mit den Sinfonikern und den Gastmusikern, die sich für eine Zugabe nicht lange bitten ließen.
Alexander Keuk

* "Hasretim - eine anatolische Reise" wird am 1.11., 20.03 Uhr auf DeutschlandRadio Kultur gesendet.

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