Montag, 6. Oktober 2008

Dreidimensional durchtobte Klangräume

Schlagzeugkonzert von Sofia Gubaidulina erstaufgeführt

Herrlich, prächtig, wunderbar - mit diesen Worten wird das englische "glorious" übersetzt. Das Adjektiv erscheint im Titel des neuen Werkes der russischen Komponistin Sofia Gubaidulina, das am Sonnabend bei der Dresdner Philharmonie im Zykluskonzert seine deutsche Erstaufführung erlebte. Doch das Wort zieht noch weitere Kreise: die Solisten des Werkes, fünf zu einer Gruppe neuformierte Percussionisten der Spitzenklasse, haben sich nach dem Konzert benannt. Und schließlich darf man das "glorious" auch gleich begeistert wiederholen, wenn es um den Eindruck, die Wirkung dieses Stückes geht, das nichts weniger als ein opulent-sinnliches Fest für die Schlaginstrumente darstellt. Nachdem man jüngst bereits den Gesang und die musikalische Gewalt des von Anne-Sophie Mutter uraufgeführten und eingespielten Violinkonzertes "In Tempus Praesens" von Sofia Gubaidulina bewundert hat, folgt mit dem im Frühjahr 2008 entstandenen und in Göteborg uraufgeführten Schlagzeugkonzert der nächste Geniestreich der Komponistin. "Gegenwärtig" ist die Haltung des Violinkonzertes, dort hat man allerdings schon das Gefühl, dass die Musik fremde, düstere wie lichte Sphären betritt, die kaum mehr beschreibbar sind. Doch Gubaidulina nimmt den Hörer auch im neuen Schlagzeugkonzert an die Hand. Wir folgen in eine karstige Welt, in der Wagner-Tuben und Basstuben Motive intonieren, die eine gigantische Steinwüste ausmalen. Gubaidulina gibt hier ihre strenge Formsprache nicht auf, doch Architektur und Harmonik stehen niemals im Vordergrund, stattdessen entsteht ein Panorama verschiedener Zustände und Entwicklungen, die aufgrund der eingangs vorgestellten Motiv-Basis zwingend erscheinen. So taucht man in einen fast in Dreidimensionalität erlebbaren, durchschrittenen und durchtobten Tonraum ein. Nach einer gefühlten Stunde (in Wirklichkeit dauert das Konzert 35 Minuten) ist man, um ein riesiges Paket an Klang- und Emotionserfahrungen bereichert, aus dem Orchesterwüstenmeer zurückgekehrt, der letzte Höllenschlag des Werkes verklingt ersterbend. Die Gruppe "Glorious Percussion" (Anders Loguin, Robyn Schulkowsky, Mika Takehara, Eirik Raude, Anders Haag) läßt einem schier den Atem stocken angesichts ihrer leichthändigen Virtuosität und der fühlbaren Intensität totalen Körpereinsatzes auf Stabspielen, Gongs und Trommeln. Immer entsteht der Eindruck, dass hier nur ein einziges, großes Instrument spielt. Rhythmische Verzahnung, ständiger energetischer Dialog mit dem Orchester und Freiheitserfahrung in den Solopassagen: das Konzert wirkt wie ein bejahender Faustschlag zur Kunst der Gegenwart, zu allen Visionen und Phantasien, die Gubaidulina mit charmanter Vehemenz auslebt und wo beschreibende Wort-Sprache verlieren muss angesichts der starken Wirkung ihrer Klangsprache. In der Interpretation der Dresdner Philharmonie unter der inspirierenden Leitung des Luzerner Orchesterchefs John Axelrod blieben keine Wünsche offen. Der Komponistin, der Gruppe "Glorious Percussion" und dem Orchester wurde am Ende des Werkes begeistert applaudiert. Interessant war der Kontrast zu Dmitri Schostakowitschs 5. Sinfonie d-Moll, Opus 47 im zweiten Teil des Konzertes. Auch hier haben wir es mit einem tief bewegenden Werk zu tun, es ist eine Manifestation eines künstlerischen Egos besonderer Art, da zur Entstehungszeit der Fünften der Komponist unter ständiger repressiver Beobachtung der sowjetischen Kulturführung stand. Axelrod nahm das Stück auswendig dirigierend sehr frei und immer flüssig in den Tempi. Harte Zeichnung der Ecksätzen wirkte ebenso überzeugend wie der wunderbar warm und intim musizierte Ruhepunkt im 3. Satz. Obwohl die Sinfonie ungleich erschreckender wirkt, wenn die Tempi extrem genau genommen werden, war die drängende, nervös vorwärtstreibende Deutung von Axelrod ebenso spannend: hier waren buchstäblich Stricke um ein Werk gelegt, deren militaristische Finalbefreiung kaum die Angst verhehlt.

Neue Musik zu alten Filmen

Ensemble ascolta gastiert bei den Tagen zeitgenössischer Musik

Die Filmavantgarde der 1920er-Jahre in Deutschland ist schon für sich genommen sehr spannend, denn die Experimentalfilme von Hans Richter, Oskar Fischinger und Walter Ruttmann sind unbestritten nicht nur Wegbereiter für eine Theorie der Filmkunst gewesen sondern immer auch Anreger für ähnliche Filme oder Kunstexperimente bis hinein in die heutige Zeit. Die Musikavantgarde war schon damals gesuchter, erwünschter Partner dieser visuellen Kunst und so ist es eine schöne Idee, die nur vermeintlich "alten" Filme mit (oft ebenso vermeintlich) "neuer" bzw. neu komponierter Musik zu verbinden. Bei den Tagen der zeitgenössischen Musik in Hellerau gastierte das Stuttgarter Ensemble "ascolta", das in Zusammenarbeit mit dem ZDR/arte seit 2004 solche Aufträge zur Neuvertonung der Experimentalfilme an Komponisten vergibt. Vier Uraufführungen gab es am vergangenen Freitag im Festspielhaus zu hören. Interessant war bei allen Werken des Abends die jeweilige Verschränkung der auditiven und visuellen Ebene, was von kompletter Parallelexistenz abstrakter Formen (Friedrich Schenker mit kraftvoller Musik zu "Lichtspiel Opus 1" von Walter Ruttmann) bis hin zum illustrativen, Nacherzählen eines Films durch die Musik (Carola Bauckholt zu "Vormittagsspuk" von Hans Richter) reichte. Georg Katzer konnte wie Schenker im abstrakten Bereich verweilen; das "Lichtspiel Schwarz-Weiß-Grau" von László Moholy-Nagy vertrug denn auch sowohl autonome musikalische Gedanken wie auch die deutliche Bezugnahme auf die Geometrien des Films. Carola Bauckholt erreichte mit ihrer Ausmalung gerade noch das spielerische Element des "Vormittagsspuks", die Aufeinandertürmung der Bild-Ton-Ebene führte jedoch maximal zu Geräuschhandwerk. Schiebetür geht auf: Ensemble spielt Glissando, Mann läuft: Klopfende Schritte im Ensemble. Bei diesem Handwerk blieb es und so vergaß man leider diese Tonschnipselei schnell. Richtig spannend waren die Beiträge des Abends an dem Punkt, wo Film und Musik sich gegenseitig durchdrangen und gemeinsam Gewinn erzielen konnten, aber ebensogut als einzelner Beitrag hätten bestehen können. Das war in Cornelius Schwehrs Vertonung des "Vormittagsspuks" der Fall. Hier gelang eine in der Klangfarbenkomposition überzeugende Annäherung an den Film, wobei die Musik immer dann noble Distanz bezog, wenn der Film Raum zur Aufmerksamkeit benötigte. Ebenso überraschend, ja erfrischend frech kam "Entr'acte" (René Clair) in der Vertonung des tschechischen Komponisten Martin Smolka daher, der vor drastischen Gesten nicht zurückschreckte, aber alle Klangereignisse in ein homogenes Zeit- und Formgewand hüllte. Weitere Stücke stammten von Bernd Thewes, Swen-Ingo Koch und Catherine Milliken, als besonderes Schmankerl steuerte das Ensemble "Studie Nr. 7" von Oskar Fischinger auf den ungarischen Tanz Nr. 5 von Johannes Brahms bei. Unter der hochkonzentrierten und kundigen Leitung von Titus Engel war nicht nur die gute Synchronisation zu bestaunen, sondern auch eine anspruchsvolle, hochrangige Interpretation der neuen und neuesten Partituren. Nicht nur die Komponisten waren am Ende darüber glücklich, das Publikum dankte ebenfalls für diesen außergewöhnlichen Filmmusikabend.

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