Donnerstag, 2. Oktober 2008

Im Schnurwald: Schießen oder nicht?

Maria de Alvears wundersame Naturoper "Colourful Penis" eröffnet die Tage der zeitgenössischen Musik

Mit der Problematik der Freiheit (eines Geistes, eines Volks, einer Liebe) haben sich nahezu alle Opernkomponisten intensivst beschäftigt, mit der Sexualität als immer neu faszinierendem Bestandteil des Lebens erst recht. Diese Begriffe in dynamische Beziehung zu setzen und dafür ein Ereignis oder ein Gleichnis zu finden, das ist die Idee des Musiktheaters "Colourful Penis" der in Köln lebenden spanischen Komponistin Maria de Alvear, dessen Uraufführung am Dienstag die 22. "Tage der zeitgenössischen Musik" in Dresden eröffnete. Im Stück wird der Penis nicht als interpretiertes Symbol der Männlichkeit betrachtet, sondern als Sinnbild für die zum Schluss in schillernden Farben erlangte und erlebte Liebe. Maria de Alvear benutzt nur eine einzige Situation für die ganze Oper: ein Soldat trifft auf eine Bärin und überlegt zu schießen. Von diesem Ereignis an friert die Oper quasi auf der Zeit-Ebene ein und verschiedene Fabelfiguren, die aus der Emotion, dem Denken, aus Zwischen- und Nebenwelten stammen, erörtern die möglichen Konsequenzen des Ereignisses. Das geschieht in der Umsetzung in Hellerau lustvoll bis phantastisch; spätestens in der dritten Szene hat man als Zuhörer die Zeit verloren und trauert ihr nicht nach. Denn man sitzt mittendrin: in einem Dickicht aus Schnüren, die im ganzen Saal von der Decke hängen. Das verschleiert die Sicht, schult die Ohren und Sinne, und jeder einzelne Lichtstrahl wird plötzlich zum Faszinosum. Jan Kattein ist für diesen grandiosen Bühnenwald verantwortlich, der, hat man ihn einmal akzeptiert, den Zuhörer auch haptisch komplett einnimmt. Die Musik, die von einem im ganzen Raum verteilten Kammerensemble zu den Zuhörern dringt, ist stark und kraftvoll. Für Neue-Musik-Moden hat die Komponistin nichts übrig, sie begnügt sich mit wenigen Instrumenten, die sie gestisch ökonomisch und eindrucksvoll einsetzt. Auf die Musiker des Ensembles "KlangArt Berlin" war Verlass. Mit Tempo-Klick im Ohr oder mit Sichtkontakt wurde die Raummusik optimal ausbalanciert und bot sicheren Untergrund für die Gesangslinien. Insistierende Patterns, Melodiefetzen, rhythmische Flächen breiteten sich wie Nebelschwaden im Schnürwald aus. Da Maria de Alvear - Varèse drängt sich als Vergleich auf - die Gestaltungskraft der Musik vor allem der Rhythmik und Dynamik zuordnet, schafft die Musik Distanz, wirkt archaisch und organisch gewachsen. Dazu huschen die Sänger (phänomenal singend, tanzend, springend: VocaalLAB Nederland) als Minichor oder als Individuen durch die Stuhlreihen, verfangen sich im Gelände, bilden Gleichgesinnte oder Gegner und loten so die Entscheidungssituation des Soldaten, der in der Gegenwelt zur Raupe wird, aus. Ein Pfau, ein weiser Olivenbaum und eine Walkuh bevölkern die Szene, die Ahnen werden ebenso befragt wie drei Großmütter, die die Raupe mit Liebe, Mitgefühl und Klarheit überhäufen. Miriam Grimm gestaltete für die Figuren mit sparsamen Kostümen zwischen Neandertaler und Pantoffelfee eine weitere Phantasieebene aus. Maria de Alvears Entscheidung, die Oper in französischer Sprache zu komponieren, wirkt am Ende sehr einleuchtend, denn sie behandelt die Sprache so sensibel, dass sie zur Traum-Sprache dieses Schnur-Waldes gerät und etwa das Wort "esprit" wie eine Böe durch den Raum fliegt. Romain Bischoff (Soldat), Bauwien van der Meer (Bärin) und der Chor argumentieren ihre Befindlichkeiten in halsbrecherischen Rezitationen, die in der Machart fast dem alten Psalmodieren nahestehen. Das ist in diesem Zusammenhang überzeugend, denn biblische oder mystische Botschaften wurden seit alten Zeiten über das gesprochene oder (liturgisch) gesungene Wort verbreitet, gelernt und erörtert. Das Ende dieses "Sinnspiels" ist so einfach wie überzeugend: In der Spiegelwelt lernt sich die Hauptperson selbst kennen und Vertrauen zu sich fassend, gesteht die Raupe der Bärin die Liebe. Es folgt der fröhlich singende Auszug des Volkes und der Fabelwesen aus dem Schnur-Wald, hinein in den echten Hellerauer Wald. Nicht ganz "echt" ist dann, was man im Walde hört, und ebensowenig, was man sich dort als reife Frucht pflücken darf. Nach dieser Naturoper in einem Traum-Raum ist man nach einer guten Stunde seltsam beglückt und überrascht, wie stimmig und überzeugend eine Musiktheateruraufführung sein kann, wenn sie so aufrichtig, humorvoll und hochprofessionell daherkommt, wie "Colourful Penis". Die "Tage der zeitgenössischen Musik" haben einen phantasievollen Auftakt gefunden und anlässlich der Thematik "Musik und Film" darf es gerne die ganze Woche so weitergehen.

Festakt mit Brahms und Bruckner

2. Sinfoniekonzert der Staatskapelle zum 460. Geburtstag

Anzusehen ist ihr das hohe Alter nicht, hören wird man es erst recht nicht, und wenn doch, dann im Sinne eine über Jahrhunderte gewachsenen Tradition einer aufrichtigen Haltung zur Musik: Die Sächsische Staatskapelle Dresden feiert dieser Tage ihren 460. Geburtstag. Bescheiden fallen die Feierlichkeiten aus, hat doch gerade erst die neue Konzertsaison begonnen, und so gibt es eine Ausstellungseröffnung, ein Kinderkonzert und ein Sinfoniekonzert. Dies alles hätte ohnehin stattgefunden, aber schon im 2. Sinfoniekonzert am Sonntagvormittag konnte man einen gewissen festlichen Charakter im Raum spüren. Der kanadische Gastdirigent Yannick Nézet-Séguin, der zum dritten Mal ein Sinfoniekonzert der Kapelle leitete, legte sich daher auch mächtig ins Zeug für die "alte Dame". Werke von Brahms und Bruckner lagen auf den Pulten und mit zwei herausragenden Solisten geriet Brahms' Doppelkonzert a-Moll Opus 102 zu einem wahren Festakt. Julian Rachlin (Violine) und Mischa Maisky (Cello) braucht man hier nicht mehr vorstellen, sie gehören lange schon zur obersten Riege ihrer Zunft und schätzen sich auch als Kammermusikpartner. Diese Eigenschaft war natürlich gewinnbringend für die Interpretation des Doppelkonzertes, denn mühelos spielten sich die beiden die Bälle zu und verschmolzen im zweiten Satz souverän in einer einzigen strömenden Melodielinie. Für gediegene Klassik stehen diese beiden Künstler nicht, man hatte stattdessen das Gefühl, Augenzeuge einer im Moment entstehenden, sofort gestaltenden und reagierenden Interpretation zu sein, die vor allem Dramatik und Lyrik so optimal auspendelte, bis der typisch erdige, voluminöse Brahms-Klang sich entfaltete. Yannick Nézet-Séguin brauchte da am Pult eigentlich nur wenig unterstützen, denn das leidenschaftliche Spiel der Solisten übertrug sich sofort auf das Orchester. Nach der Pause erklang die Urfassung der 3. Sinfonie d-Moll von Anton Bruckner. Damit wählte das Orchester zum Geburtstagskonzert nicht eben den bequemsten (4. Sinfonie), aber auch nicht den monströsesten (8. Sinfonie) Weg, sondern ließ sich auf die wechselvolle Rezeptionsgeschichte eines Werkes ein, mit dem Bruckner trotz mancher Diskussion und Ablehnung sinfonisches Selbstvertrauen erlangte. Zudem verbindet die Kapelle mit dem Stück die Uraufführung der Originalfassung, die Joseph Keilberth 1946 im Kurhaus Bühlau dirigierte. Fast zwanzig Minuten Musik (aber auch einige Generalpausen) mehr bietet die Urfassung gegenüber mindestens fünf (!) späteren Fassungen. Das führt nur im 2. Satz zu einigen gespürten Längen, ansonsten entsteht das Bild eines monumentalen, in Wellen anrollenden Ungetüms. Man hätte der "Dritten" auch ohne weiteres den Beinamen "Die Plötzliche" verleihen können, so oft wie Bruckner hier mit Abbrüchen, Tonartrückungen oder auf den Kopf gestellter Form überrascht. Erst in den letzten Takten befreit sich die Sinfonie erlösungsartig mit dem Hauptthema des 1. Satzes aus ihren Verwicklungen, die in ihrer ständigen Neugenese für romantische Verhältnisse nahezu avantgardistisch wirken. Yannick Nézet-Séguin verzichtete auf Pathos und Gottesdienst zugunsten von vorwärtsdrängenden Steigerungen und Akzentuierung der harmonischen Ebene. Damit lag er richtig, wenngleich seine Körperaktion zu oft (und leider auch gleich in den ersten Takten der Sinfonie) zu lautes Spiel hervorbrachte, was bei Bruckners großbögigen Tutti-Passagen eben nur bis zu einer gewissen Grenze sinnvoll ist - jenseits dieser wirkt die ausgeübte Kraft gewalttätig statt geerdet. Schön war die rhythmische Arbeit bei Akzentuierungen zu beobachten, aber in den beiden ersten Sätzen haperte es in den Unisono-Passagen an Genauigkeit im Zusammenspiel. Stark war die Finalwirkung des 4. Satzes, hier wie auch im äußerst lebendigen Scherzo hatten sich Dirigent und Orchester dann vollkommen auf die notwendige, adäquate Intensität der Spannung verständigt.

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