Donnerstag, 12. Mai 2016

Ausdrucksstark und persönlich

Jerusalem Quartet mit Schostakowitsch-Streichquartetten bei den Musikfestspielen

"Viel Vergnügen" wünschte die Dame am Eingang des Konzertsaals der Musikhochschule am Montagabend, als sie die Karte kontrollierte. Das war sicherlich ehrlich gemeint, aber ein Blick auf das Programm des Gastspiels des Jerusalem Quartets bei den Dresdner Musikfestspielen ließ einen eher das Blut in den Adern gefrieren: drei Streichquartette von Dmitri Schostakowitsch nacheinander, dazu mit dem 1., 8. und 15. Quartett einen Bogen über das 36 Lebensjahre umfassende Schaffen des Komponisten in diesem Genre spannend. Alle drei Kompositionen sind besondere Kapitel, wenn man die fünfzehn Streichquartette wie ein Buch begreift, das Schostakowitsch nicht etwa dann zu schreiben genötigt war, wenn Äußerliches danach verlangte, sondern wann immer der Rückzug in die Intimität der Kammermusik ihn geradezu zu den Noten zwang.

Schon im 1. Quartett C-Dur (1938) ist die sprachliche Direktheit greifbar, wenngleich sie hinter bunten, geradezu konform konstruierten Sätzen, wie sie auch seinen Ballett- und Filmmusiken entstammen könnten, maskiert ist - die "propagierte Fröhlichkeit einer blutgetränkten Epoche" (Detlef Gojowy) läßt dieses Quartett nicht zweifelsfrei zum Vergnügen werden. Das Jerusalem Quartet mit Alexander Pavlovsky und Sergei Bresler (Violine), Ori Kam (Viola) und Kyril Zlotnikov (Cello) zeigte sich dieser Hintergründe kundig, weil Walzer- und Marschidiome hier nicht krachledern und offenherzig daherkamen, sondern eher subtil und mit flexiblem und gemeinsam geformten Streicherklang.

Im berühmten, 1960 in Gohrisch bei Dresden entstandenen 8. Streichquartett c-Moll setzte sich diese Farbigkeit fort. Hohe Emotion kam hinzu, mit der zwar große Legato-Linien gelangen, aber sich in mancher fortissimo-Passage die letzte Sauberkeit und rhythmische Prägnanz verringerte. So verlieh das Jerusalem Quartet diesem "ersten Requiem" einen vor allem leidenschaftlichen Grundton, und die kantablen Passagen gaben dieser unheilvollen Bilanz nicht den Charakter letzter Endgültigkeit.

Doch etwaige Reste von Hoffnung, die sich im Singen manifestieren, zerbrechen dann entgültig in Schostakowitschs letztem Quartett in es-Moll, Opus 144 (1974), welches das Jerusalem Quartet im Saaldunkel nur im schwachen Licht der Pultlampen spielte. Der Zuhörer sieht sich hier einem Kokon von Musik "in privatissimum" ausgesetzt. Das Quartett ging mit gleichbleibend hoher Energie an das Werk heran, was im Ergebnis mehr in das Stück hineintrug, als Schostakowitsch eigentlich notiert hatte - das berührt aber die grundsätzliche Frage, wie man sich zu einem sicher in ersten Begegnungen auch verstörenden Werk überhaupt als Interpret verhält. Der erste Satz arbeitete sich oft in ein gewöhnliches mezzopiano vor, hingegen beeindruckten die schattenhaften Arabesken des Intermezzos.

Die wie ein Windhauch auffahrenden Passagen im 6. Satz hätten mit einer als spielerische Möglichkeit zu ergreifenden Distanz noch mehr Intensität erhalten. Und dennoch: wenn in diesem Quartett plötzlich eine Dur-Terz wie ein Pulsschlag des Herzens offenlag und sich das Jerusalem Quartet an den Schwellen des Entstehens und Vergehens von Musik respektvoll aufhielt und so die persönliche Aussage der Partitur zu einer universellen zu formen wusste, folgte man ergreifend und konnte dieses ausdrucksstarke Konzert nach längerer Stille nur mit starkem Applaus belohnen.

Mittwoch, 11. Mai 2016

In der Tritonushölle

Liszt-Konzertabend mit der Dresdner Philharmonie

Wenn man einen ganzen Konzertabend einem einzigen Komponisten widmet, so erhält man im günstigsten Fall tiefere Einblicke in das Werk - allerdings auch vergleichslose, denn die Einordnung in die Musikgeschichte muss man sich hinzudenken. Drei Werke aus Franz Liszts produktiven ersten Weimarer Jahren standen am Wochenende auf dem Programm der Dresdner Philharmonie im Schauspielhaus. Zweifelsfrei hört man diesen Werken an, dass der Rastlosigkeit der Jugendjahre eine Art gemessenere Haltung in der Konzentration auf die Thematik folgte, doch erscheinen gerade die Orchesterwerke von Liszt heute eher speziell.

Wenige etwa seiner sinfonischen Dichtungen haben die Zeiten überlebt, "Orpheus" aus dem Jahr 1854 gehört noch zu den am besten gelungensten Exemplaren - bei der Instrumentation einiger dieser Werke ließ sich Liszt von Joachim Raff helfen. Die reizvoll-artifizielle Stimmung zu Beginn veredelten die Philharmoniker mit Horn- und Harfenklang. Am Pult stand die Australierin Simone Young, die schon einige Male in Dresden gastierte und gerade an der Staatsoper Hindemiths "Mathis der Maler" zur Premiere brachte. Sie sorgte in "Orpheus" für eine ruhige, klangschöne Herangehensweise, und kleinere Soli wie etwa das von Konzertmeister Wolfgang Hentrich waren fein in den Gesamtklang eingebettet.

Das folgende Werk bezieht das Klavier ein, und wenngleich die Originalnoten Franz Schubert gehören, wusste Liszt doch die Kunst der Bearbeitung erfolgreich zu nutzen - mit Dutzenden von damals sehr beliebten Transkriptionen sicherte sich Liszt nicht nur finanzielles Auskommen, sondern sorgte auch für die Verbreitung von Schuberts Werk. Dessen C-Dur-Fantasie, später als Wanderer-Fantasie bekannt geworden, erreicht im Schwierigkeitsgrad ohnehin mühelos Lisztsche Sphären - der Kanadier Louis Lortie nahm diese ziemlich gelassen, manchmal gar etwas zu routiniert. Denn die bloße Ausstellung der Perfektion reicht für dieses Werk kaum, und ein Gefühl für Atem und tiefere Ausgestaltung war eben genau das Sahnehäubchen, was dieser an technisch völlig souveränen Interpretation fehlte.

Bleibt die "Dante-Sinfonie", die nach der Pause angestimmt wurde. Hier haben die Philharmoniker mit Simone Young zwar ein starkes Plädoyer für Liszt angestimmt, doch dem vor Äußerlichkeiten und unbeholfenem Tonsatz nur so strotzendem Werk half dies wenig. Faszinierend, wie gut die vielen offen liegenden Einsätze und einstimmigen Passagen gelangen, und wie auch Simone Young mit leidenschaftlichem Einsatz immer wieder zu wunderbar ausmusizierten Passagen unterstützte. Und betrüblich, wie man von sich als Zuhörer dann doch von einem verminderten Akkord zum nächsten hangelt - der von der Empore schallende "Magnificat"-Chor der Damen des Philharmonischen Chores (Einstudierung Gunter Berger) konnte, obwohl mit Kameraunterstützung von der Bühne gut abgenommen und ordentlich gesungen, am Ende kaum Läuterung bringen. Wenn die Hölle wirklich nur aus Tritoni, Tremoli, Motivwiederholungen und von Generalpausen zerhackten Episoden besteht, sollten wir uns für den Himmel anstrengen.

Dienstag, 10. Mai 2016

Nahrung für die Seele

Boston Symphony Orchestra und Andris Nelsons gastieren bei den Musikfestspielen

Er ist einer der aufregendsten Dirigenten unserer Zeit: der 37-jährige Lette Andris Nelsons war im Gespräch für den Chefposten bei den Berliner Philharmonikern, wird ab der Saison 2017/2018 Gewandhauskapellmeister in Leipzig und wird dies mit seiner derzeitigen Tätigkeit als Chef des Boston Symphony Orchestra vereinbaren, mit dem er am Freitag bei den Dresdner Musikfestspielen zu einem umjubelten Konzert in der Frauenkirche gastierte. Nelsons wurde nach dem Konzert mit dem Glashütte Original MusikFestspielPreis ausgezeichnet und spendete die damit verbundenen 25.000 Euro Nachwuchsförderprojekten an seinen Wirkungsstätten in Riga, Boston und Leipzig.

"Es ist meine starke Überzeugung, dass Musik ein fundamentales Recht für die Menschen ist oder Nahrung für unsere Seelen, wie ich es schon oft beschrieben habe.", sagte Nelsons in einer kurzen Ansprache des Dankes. Was er in Boston in nur zwei Spielzeiten an inniger Verbindung aufgebaut hat und wie diese Seelennahrung sich in einer Interpretation Bahn bricht, davon konnten sich das Publikum vorab in der Frauenkirche überzeugen. Mit Gustav Mahlers 9. Sinfonie D-Dur (1910) stand ein monumentales Bekenntniswerk auf dem Programm - da hätte es Max Bruchs "Kol Nidrei" für Cello und Orchester kaum mehr bedurft, das in der Gegenüberstellung wie ein perfekt in Szene gesetztes Stimmungsbild wirkte.

Dennoch konnte man sich am Schönklang laben, den der Solist und Intendant der Dresdner Musikfestspiele Jan Vogler mit dem Orchester und der achtsamen Begleitung durch Nelsons zelebrierte. Da Bruch dem Cello nur spärliche Tupfer im Orchester hinzufügt, hat der Solist viel Freiraum zur Entfaltung. Jan Vogler nutzte diesen nicht zum übertriebenen Sentiment, sondern für sanft daherströmenden Gesang, für den es reichlich Applaus gab. Innerlich umschalten musste man dennoch zwischen den beiden Werken, denn bei solch eingängiger Demonstration melancholischer Melodien würde es nicht bleiben, das weiß jeder, dem das Werk von Gustav Mahler bekannt und lieb ist.

Mit einer Aufführung der 9. Sinfonie huldigt man sicher auch keinem Geschmack oder Entspannungsbedürfnis des Publikums. Vielleicht ist ein nachvollziehender Respekt die beste Beschreibung für Andris Nelsons grundsätzlicher Haltung zu diesem Werk: im großartig ausformulierten 1. Satz tritt der Dirigent quasi gemeinsam mit Mahler einen langen Weg an, der in den Atem nehmenden letzten Passagen des Ersterbens dieses Werkes sein Ende nimmt. Da ist man bereits in anderen Sphären angelangt, und dieser Weg war ebenso faszinierend schön wie abgründig bitter und traurig im Hören nachzuverfolgen. Hatte man sich einmal an die ungewohnte Aufstellung mit wie an der Schnur aufgereihten Bläsern im Altarraum und den Streichern im Kirchraum gewöhnt, so war es vor allem die Intensität der Farben, die immer wieder neu aus der Musik herausschimmerte.

Die präzise intonierenden und auf den Punkt genau zusammenfindenden (was in der Frauenkirche wahrlich für Gäste nicht leicht ist) Musiker nahmen Nelsons mehr zeichnendes als malendes Dirigat vollkommen verstehend ab. Was in den ersten beiden Sätzen sich noch kraftvoll mit den Füßen auf dem Erdboden abspielte, gewann in der Burleske an Transzendenz, aber auch berstender innerer Spannung - eine solche Intensität und Wärme der großen Streicherpassagen im finalen Adagio hat man so wohl noch nie gehört, und von den vielen den Charakter der Musik völlig erfassenden Soli etwa von Flöte, Englisch-Horn und Horn kann man nur ins Schwärmen geraten. Nach den letzten sich in der Kuppel verlierenden Tönen setzte eine lange Stille ein, die man, durch stetigen Satzapplaus eines offenbar unkundigen Publikums gestört, vorher schmerzlich vermisst hatte. Dann aber wurden die Bostoner und ihr Chefdirigent für dieses atemberaubende Musikerlebnis gefeiert.

Sonntag, 8. Mai 2016

Hier habe ich gelernt, was Musik ist

Herbert Blomstedt zum Ehrendirigenten der Sächsischen Staatskapelle Dresden ernannt - Reger und Beethoven im 10. Sinfoniekonzert

47 Jahre ist es her, dass der Schwede Herbert Blomstedt zum ersten Mal am Dirigentenpult der Sächsischen Staatskapelle Dresden stand. Daraus wurde eine bis heute reichende, intensive Beziehung, bei der Blomstedt 1975-85 als Chefdirigent wirkte. Der 88-jährige Dirigent hat die Kapelle in schwieriger Zeit geprägt, er selbst merkte am Donnerstag bescheiden an "Hier habe ich gelernt, was Musik ist." In seiner Laudatio charakterisiert Bernward Gruner, Orchestervorstand und seit 1979 als Cellist Mitglied der Staatskapelle, Herbert Blomstedt wie folgt: "In großer Gründlichkeit, mit überschäumender Liebe zur Musik und stets sehr achtungsvoll im Umgang mit den Musikern und dem Publikum gingen Sie zu Werke. Sie setzten künstlerisch und menschlich Maßstäbe, die unter keinen Umständen unterschritten werden konnten."

Die Ernennung zum Ehrendirigenten - Blomstedt ist der zweite Dirigent nach Sir Colin Davis, dem diese Auszeichnung zuteil wird - nach dem 10. Sinfoniekonzert in der Semperoper begleitete das Publikum mit stehenden Ovationen. Es war ein sehr emotionaler Moment, als Blomstedt zum Dank ansetzte: "Mein Herz hat zwei Kammern, es sind zu wenige. Ich möchte im meinem Herzen viel Platz für die Freunde und Erinnerungen in Dresden haben". Blomstedt dankte dem Publikum explizit auch für die bewegende Stille in den Aufführungen, die er spüre. "Halten Sie an dem Orchester fest, dass es gedeiht", verabschiedete sich Blomstedt unter herzlichem Beifall. Diese Stille, unter der Musik besondere Spannung gewinnt, war zuvor auch das bestimmende atmosphärische Element im Sinfoniekonzert.

Mit der Aufführung von Max Regers Klavierkonzert f-Moll, Opus 114 gelang eine besondere Ehrung zum 100. Todestag des Komponisten. Keineswegs ist dies ein populäres, gleich beim ersten Hören eingängiges Stück, und es braucht dafür versierte Protagonisten wie Blomstedt und den amerikanischen Pianisten Peter Serkin, Sohn des Pianisten Rudolf Serkin, der das Reger-Konzert schon 1922 mit Furtwängler aufgeführt hat. Vor allem die klare Charakterisierung der drei Sätze des Werkes kam dem Erfolg der Interpretation zugute. Peter Serkin machte sich mit kühler Konzentration an den monströsen Klavierpart und schaffte es nach kurzer anfänglicher Nervosität, der düsteren f-Moll-Welt des 1. Satzes mit Klängen den höchst intimen, von irritierender Verlorenheit (und Bach!) geprägten Mittelsatz entgegenzusetzen, bevor der Ausklang in der Reger-Welt im vorsichtigen Scherzando-Charakter gelang - immer von Blomstedt und dem Orchester mit viel Sinn für die verschlungene, reizvolle Polyphonie achtsam begleitet.

Diesem grüblerischen Schwergewicht die 7. Sinfonie A-Dur von Ludwig van Beethoven gegenüberzusetzen, macht Sinn, weil der Lebensentwurf diese Werkes dann wieder Hoffnung verschafft. So leuchtete aus Herbert Blomstedts Interpretation nach einer gemessenen, aber im Charakter vollkommen definierten Einleitung des dann kraftvoll auffahrenden 1. Satzes im attaca angesetzten Allegretto Zuversicht im Sinne eines "es muss sein". Wenn man diese im 4. Satz mit von spannungsgeladenem Zug im Tempo und strahlend-hellem Kapellklang geprägte Deutung trotzdem entspannt nennen darf, so betrifft dies vor allem eine diesseitige, von tiefem Respekt vor der Musik und sich stets erneuerndem Enthusiasmus geprägte Haltung, für die Herbert Blomstedt steht - herzliche Gratulation dem Ehrendirigenten!

Samstag, 30. April 2016

Wild

Offenbar ist 2016 nicht unbedingt mein Jahr des Kinos, erst zum zweiten Mal habe ich in dorthin gefunden. Man könnte auch sagen, das Kino hat mich erst zwei Mal gefunden, denn natürlich lese ich viel über neue Filme, aber kaum etwas spricht mich an, so dass ich in meinem Notizbuch nur eine spärliche LUF (Liste ungesehener Filme) führe. Doch "Wild" (Heimatfilm Produktion) sprang mich an, als ich durch Zufall davon las - er schien sofort zu sagen, hier, komm, das ist dein Film. Nicolette Krebitz (Bandits, Jeans, Tatort) war mir ein Begriff und ich konnte daher zumindest vermuten, dass der Film sich nicht lange bei einer "Faszination Wolf" im National Geographic Style aufhalten würde.

Ich lag richtig. Ania (Lilith Stangenberg) ist eine Mittzwanzigerin im IT-Business, die aber - aus welchen Gründen, verrät der Film nicht - ein etwas vereinsamtes, von Sehnsüchten geprägtes Leben im Plattenbauviertel führt, sie hat sich offenbar länger schon nach innen zurückgezogen, ein Lächeln erscheint selten in ihrem Gesicht. Auf ihrem Arbeitsweg sieht sie am Rand eines Wäldchens eines Tages einen Wolf. Und ab diesem Zeitpunkt ist nichts mehr, wie es vorher war. Nahezu in der Stimmung einer großen ersten Liebe, die unglaubliche Kräfte, aber auch irrationale (das Wort ist im Filmzusammenhang mit Vorsicht zu genießen) Wünsche freisetzt, beschließt sie, fortan mit dem Wolf zu leben.

Dafür verwandelt sich ihre Wohnung in einen "Bau", und da müssen Job, Gewohnheiten und zwei Kaninchen dran glauben. Was sich aber ab der ersten Begegnungsszene auftut, bleibt in Krebitz Regie intensiv, der Film ist ein stiller Thriller, der gottseidank nicht zu sehr in Absurdität oder Horror driftet, allerdings auf dem 20.15-Sendeplatz auch nicht zu finden sein dürfte, denn Krebitz Szenen sind wuchtig und direkt. Als Zuschauer erliegt man sehr bald dem Filmtitel - es ist wirklich "wild", was sich da abspielt. Ania 'verwolft', verwildert, steigt nach und nach aus der Zivilisation aus, die auch im Film kaum noch eine Rolle spielt - der Ex-Chef erleidet das Schicksal, nicht im 2er-Rudel geduldet zu sein, die Wohnung ist bald kein Ort zum Leben mehr, eher zum Vegetieren.

Also geht es hinaus - ja, in eine Form von Freiheit, die Krebitz aber auch nicht unkommentiert läßt (was ich nicht wörtlich meine, der Film lebt vom Bild und vom Ausdruck, nicht vond er Sprache, die sehr spärlich eingesetzt ist), denn die Ver-rücktheit der Dinge zeigt sie mit dem Kamerablick noch, als Wolf "Nelson" (der komplette Film wurde mit einem echten Wolf eines ungarischen Tiertrainers gedreht, das Rudel war bei den Drehs stets dabei) mit ihr an der Leine - nicht umgekehrt - durch den Tagebau in Sachsen-Anhalt hetzt.

Der Film hinterläßt mich einigermaßen sprachlos, wenngleich ich ihn hier natürlich beschreiben kann, aber es ist auch sehr schwierig, ihn zu bewerten, da jede Form von Kritik im Pool der Irritation landet, den Krebitz hier sehr raffiniert anlegt. Dafür hat sie auch eine grandiose Hauptdarstellerin gefunden, die 27-jährige Lilith Stangenberg bricht von der ersten Minute an die Distanz zum Film oder Thema völlig auf. Wer idealisierende Tier-Menschelei im Kino sehen möchte, lasse den Film besser aus. Näher liegt "Wild" beim Thema 'Tier im Mensch', wobei am Ende auch die Frage stand, ob eine männliche Sicht auf das Thema genau so oder anders ausfallen würde.




Mehr zum Film:
* "Die mit dem Wolf wohnt" - Dkultur Audio
* "Wölfe kommen überall hin", Rezension Süddeutsche
* Schnuppern, Kratzen, Lecken - Zeit Online

Kein Nachwürzen notwendig

Alison Balsom und die Dresdner Philharmonie in der Frauenkirche

Mit Kompositionen aus Barock, Wiener Klassik und dem 20. Jahrhundert in der Notentasche machten sich die Dresdner Philharmoniker am Sonnabend auf zum Gastspiel in der Frauenkirche. Trotz der verschiedenen präsentierten Epochen gelang ein eingängiger, nicht sonderlich kontrastreicher Konzertabend unter dem Titel "Trompete und Orchester", bei dem die Britin Alison Balsom gleich zwei Mal solistisch zu erleben war.

Sie gilt weltweit als eine der führenden Trompeterinnen in der Klassik-Szene und begeistert mit ihrem wunderbaren Ton ebenso wie mit einem breiten Repertoire. Für ihr Gastspiel in der Frauenkirche wählte Balsom den Trompetenklassiker schlechthin, das Konzert Es-Dur von Joseph Haydn - dieses allerdings war auch bei einem Auftritt 2012 am selben Ort schon im Programm. Im Raum der Frauenkirche entfaltet sich ein Trompetenton recht mühelos, und so konnte Balsom hier viel Augenmerk auf die Ausgestaltung der Töne verwenden. Virtuoses gelang ihr ebenso selbstverständlich und schwerelos wirkend wie der strömende Klang des Instrumentes im langsamen Mittelsatz.

Diese absolute Souveränität erzeugte aber doch einige Male den Eindruck eines fertigen Essens, an dem es schlicht nichts mehr nachzuwürzen gibt. Der Aperitif zu Beginn des Konzertes war eine Trompeten-Adaption eines Violinkonzerts von Giuseppe Tartini. Diese Musik hingegen war in der problemlosen Einlösung aller Erwartungen, die man vom Meister der Musikschule in Padua - damals ein Violin-Mittelpunkt der Welt - haben konnte, recht flau. Die reine Virtuosenmusik ist zwar auf der Trompete einigermaßen trickreich zu bewältigen, aber in der kurzatmig-konventionellen Anlage wird auch keinerlei Anspruch für den Zuhörer verlangt.

Der "gefällige Charakter" wurde Tartini schon damals von Johann Adam Hiller bescheinigt, und große Unterhaltung gelang im Barock eben durch Kunstfertigkeit und im Falle von Tartini - "Teufelei", nur dass der Diabolus hier kaum einmal vor der Vorhang treten wollte. Den Teufel muss auch Igor Strawinsky geritten haben, folgt man Theodor W. Adornos Äußerungen zu "verbrauchten Klängen" und "vertrottelten Figuren" - letzteres wohl auf sein 1920 entstandenes Ballett "Pulcinella" bezogen. Wie zauberhaft Strawinskys Adaption der Pergolesi-Musik aber allem Theoretisieren widersprechen mag, zeigten die Philharmoniker, die in den Trompetenkonzerten übrigens die Solistin wunderbar tragend begleitet hatten, in der Mitte des Konzertes mit ihrer plastischen, von vielen Solisten im Orchester angeführten Interpretation der "Pulcinella"-Suite.

Erstaunlich war, wie filigran die Tanzsätze in der kleinen Besetzung im Kirchenraum wirkten - Michael Sanderling hatte seine Musiker auf eine gute Balance eingeschworen und die dynamische Abgrenzung der jeweiligen Solisten von wunderbar trocken vorgetragenen perkussiv-rhythmischen Effekten und harmonischem Begleitmaterial gelang hervorragend, so dass die Melodieträger der einzelnen Nummern glänzen durften.

Nach nur einer knappen Stunde war das kompakte und gefällige Konzert in der Frauenkirche beendet, und Alison Balsom bedankte sich für den Applaus mit "Syrinx" von Claude Debussy, 1913 im Original für die Querflöte entstanden. Erst hier landete man - viel zu kurz - in einer von Emotion stärker durchdrungenen Welt, in der auch die menschliche Imperfektion sympathisch aufblitzen durfte.
(25.4.)

Gemeinsam empfunden

Collenbusch-Quartett im Kammerkonzert der Dresdner Philharmonie

Das Streichquartett galt und gilt für Komponisten immer als besondere Herausforderung - nicht nur, weil man im Schatten der Musikgeschichte mit unerreichbaren Größen auf diesem Gebiet konfrontiert ist. Der spezielle Ensembleklang der vier Streichinstrumente inspiriert und läßt viele verschiedene Klangwelten zu. Drei Beispiele höchst unterschiedlicher, aber in der Einzelbetrachtung großartiger Werke dieses Genres stellte das Collenbusch-Quartett im Kammerkonzert der Dresdner Philharmonie am Mittwochabend auf Schloss Albrechtsberg vor.

In Ludwig van Beethovens reichem Quartettschaffen wirkt das Quartett c-Moll, Opus 18 Nr. 4 wie ein Brückenwerk zwischen den Zeiten. Der kraftvolle Eingangssatz bietet eine derartige Emphase, dass die nachfolgenden Sätze leichter ausfallen müssen, und so kommt es auch: ein "Scherzoso" grüßt deutlich Joseph Haydn, ein Menuett träumt sich in Mozart-Welten. Im Finale zeigen unverkennbare Wendungen, dass das letzte Wort für Beethoven noch nicht gesprochen ist. Das 2012 gegründete, nach dem Dresdner Kunstliebhaber und Mäzen Friedrich Adolph Collenbusch (1841-1921) benannte Quartett mit Cordula Fest und Christiane Liskowsky (Violine), Christina Biwank (Viola) und Ulf Prelle (Violoncello) überraschte hier schon mit einem zumeist schlanken und lyrisch geführten Gesamtklang, bei welchem nicht das Individuum auftrumpfte, sondern einmal eingeschlagene Wege des Ausdrucks sich natürlich von einem Instrument zum anderen fortsetzten.

Gespannt war man dann auf das Quartett "Black Angels" des US-Amerikaners George Crumb (*1929) aus dem Jahr 1970, das in Reflektion auf den Vietnam-Krieg entstanden ist und Vergangenes und Gegenwart ebenso schonungslos beleuchtet wie Abgründe der Menschheit. Unstrittig ist, dass die unchiffrierten, nackten Klänge und mit Zusatzinstrumenten erzeugten Geräusche des elektrisch verstärkten Quartetts die Hörer sofort erreichen. Dem steht eine gewisse Kleinteiligkeit der Komposition entgegen, die den klanglichen Schrecken manches Mal doch zur Episode erniedrigen, trotzdem weitet sich der Bilderbogen von Kapitel zu Kapitel, und der dritte Teil wartet dann mit einer Art Erlösung auf, wobei sich das Gefühl der Fragilität bis zum Ende selbst beim Erreichen von Dur-Klängen auf einem Gläserspiel nicht wirklich auflöst.

Das Collenbusch-Quartett widmete sich dem Werk von Crumb mit hoher Aufmerksamkeit gerade für die gebrochenen, im Zerbrechen befindlichen oder an deren Grenze schrammenden Klänge, so dass man eher einer Faszination des Klangsinns erlag, weniger der Wucht des klagenden Ausdrucks. Quasi als Bestätigung dieses Höreindrucks schloss das Collenbusch-Quartett das abwechslungsreiche Konzert mit dem 1903 entstandenen Streichquartett von Maurice Ravel ab - hier kam es noch stärker auf ein gemeinsam empfundenes Klangbild an, das nun mit dem Gefühl des "Danach" von Beethoven und Crumb gehörig an Tiefe gewann. Die leichte Melancholie und der wogende Klang eines Mezzopiano lag wie ein Schimmer über den ersten drei Sätzen. Diese pastellene Farbe übertünchte auch manche im Werk liegende himmlische Länge, und schließlich wartete da auch noch ein Finale, das den Zuhörer mit seiner kraftvollen Brillanz - und vom Quartett dennoch mit leichter Finesse interpretiert - positiv gestimmt in den Abend entließ.
(24.4.)

Im Wechselbad der Emotionen

Uraufführung von Torsten Raschs Violinkonzert "Tropoi"

Auch wenn in Jahresfrist der neue Konzertsaal im Kulturpalast das Reisen der Dresdner Philharmonie in der Stadt beenden wird, sind die Musiker hier in der Kreuzkirche seit Jahrzehnten konstanter Partner des Kreuzchors in Oratorienaufführungen und gestalten in der Kreuzkirche eigene Konzerte aus. Das Konzert am Sonntag war nicht nur deswegen eine wichtige Bereicherung der Festwoche zum 800-jährigen Jubiläum von Kreuzchor, Kreuzschule und Kreuzkirche.

Auf dem Programm stand zudem eine Uraufführung eines ehemaligen Kruzianers: Torsten Rasch (*1965) sang bis 1983 im Kreuzchor und studierte dann an der Musikhochschule Dresden. Seine musikalischen Spuren hinterläßt er nach einem bis 2005 währenden Japan-Aufenthalt in den letzten Jahren auch dank wertschätzender Auftraggeber mehr und mehr wieder in Sachsen - erst im letzten Jahr dirigierte Milko Kersten in Chemnitz sein großes Oratorium "A Foreign Field". Der Erste Konzertmeister der Dresdner Philharmonie, Wolfgang Hentrich, wünschte sich schon lange ein Violinkonzert von Torsten Rasch, und das wurde nun Wirklichkeit. Es bedeutete für Hentrich ein gehöriges Stück - willkommene - Arbeit, denn das am Sonntag uraufgeführte Werk "Tropoi" hat es in sich.

Schon während der ersten mit großer Intensität ausgeführten Takte des Solisten wurde aber klar, dass das neue Stück in versierten, guten Händen gelandet ist - Hentrichs starkes und stetiges Engagement für neue oder am Rand des Repertoires stehende Konzerte ist bekannt. Leider erfuhr das Publikum im Programmheft nahezu nichts über das neue Werk, so wurde man also Ohrenzeuge der Musik selbst - und da hat Torsten Rasch eine so unverwechselbare klare und dennoch komplexe, dichte Musiksprache, dass es der Worte gar nicht benötigt. Aus höchsten Höhen steigt das Konzert herab in eine für dieses Werk explizit und einzigartig geschaffene Klangwelt, in der sich verschiedene Zustände und Entwicklungen organisch verflechten - worüber Wolfgang Hentrich mit dem Soloinstrument nahezu permanent kommentierend, initiierend oder reflektierend agiert, Energie hinzufügt oder herausnimmt. S

o befindet man sich als Zuhörer in diesen vier Sätzen auf einer in vielen Farben schillernden Reise, erlebt emotionale Wechselbäder, wenn Rasch etwa mit vollkommener Instrumentierung irrwitzig melancholische Farben im 3. Satz hervorzaubert. Diesen Satz hatte Hentrich zuvor mit einem wunderbar gesanglichen, doch eben ganz erfundenden oder fast besser: gefundenen Solo eingeleitet. Die Anklänge an die Tradition in diesem Werk stören nicht, sie bereichern, lenken die Gedanken auf Vergangenes, deuten es neu und das auf einer Sekunde leise auspendelnde Ende erscheint ebenso als rhetorische Figur: es geht weiter, Musik hat eigentlich niemals ein Ende.

Für die sich absolut dem Werk hingebende, spannungsvoll atmende Interpretation von Wolfgang Hentrich gab es ebenso starken, verdienten Applaus wie für den Komponisten selbst - und natürlich für den jungen britischen Dirigenten Leo McFall, dessen Debut bei der Dresdner Philharmonie mit einer so in allen Belangen konzentriert umgesetzten Weltpremiere ein Achtungszeichen ist. Vielleicht hatte man sich wegen dieses großen neuen Werkes im Mittelpunkt des Konzerts für ein augenscheinlich "leichteres" Rahmenprogramm entschieden.

Franz Schuberts Ouvertüre zur Oper "Die Zauberharfe" ist ein sinfonisches Überbleibsel eines ansonsten vergessenen Werkes, hat aber durchaus Raffinement. McFall bemühte sich hier sehr um Deutlichkeit im schwierigen Kirchraum, trotzdem war die Homogenität der Philharmoniker hier einige Male gefährdet. Die Abstimmung fehlte leider auch ein wenig im 1. Satz der abschließend dargebotenen Sinfonie Nr. 98 B-Dur von Joseph Haydn. Doch McFall gab der Leichtigkeit mehr und mehr Raum zur Entfaltung, und so gab es in dieser 1792 entstandenen "Londoner Sinfonie" dann viele fein ausmusizierte Bläserpassagen, ein insgesamt schlankes Klangbild und ein schmissig hingelegtes, munteres Finale zu bewundern.
(19.4.)

Dienstag, 19. April 2016

Traum CXX

zweiteilig. Beim ersten bin ich Zeuge eines Zugunglücks. Ein Intercity, der schon mit derangierten und zerstörten ersten drei Wagen an mir vorbeifährt, kann die Spur nicht mehr halten und kippt nach rechts auf eine unter dem Damm liegende Straße. Es folgt ein Nostalgiezug, der TEE, der aus mir unerfindlichen Gründen ebenfalls an derselben Stelle umkippt. Der Traum ist recht klar, ich koordiniere danach Helfer und leite sie zum Bahndamm. Später sehe ich mir die Szenerie an und sehe auch noch eine Dampflok, die dort hineingefahren ist. Weniger als Horror und Realismus ist es eher ein surrealer Traum, ich habe keinen Kontakt zu Menschen und nehme das Unglück auch nicht als solches wahr.
Zweiter Teil: ich spreche mit einer berühmten Komponistin in einer Art Interview. Sie ist alt und sitzt aufrecht in ihrem Bett, erzählt über ihr Leben und die Musik. Ich sitze in gleicher Haltung in einer Art Beistellbett, das viel kleiner ist (ich offenbar auch). Mehr weiß ich davon nicht mehr, lediglich, dass das Gespräch sehr gut und intensiv gewesen sein muss.

Freitag, 15. April 2016

Traum CXIX

(nach mehreren traumlosen Wochen)
Meine Mutter stirbt im Traum noch einmal, diesmal zu Hause in W., oben auf dem Schrank liegt der Notizblock mit der Medikation, sie hatte ihre Medikamente zuvor noch genommen, lese ich. Es ist keine Atmosphäre von Drama oder Trauer, eher eine sachliche Begutachtung der elterlichen Wohnung, mit dem Stiefvater auf dem Sofa, der still und aufrecht in einer Ecke sitzt, dem Interieur, Regalen und Tischen in der Küche, die ich so auch zum ersten Mal seit der Kindheit wieder wahrgenommen habe. Ins Ohr schleicht sich das Finale aus Mahlers 8. Sinfonie. Im Aufwachen gegen kurz vor 6 stelle ich fest, dass es nicht nur der neunte Todestag meiner Mutter ist, sondern auch die Todesstunde.

Dienstag, 12. April 2016

Ein starkes Statement

Deutsche Erstaufführung der "Mesopotamia Symphony" von Fazıl Say mit der Dresdner Philharmonie

Dass ein Konzert mit der klassischen Folge Ouvertüre-Konzert-Sinfonie eine Vielzahl an unterschiedlichen Emotionen aufwirft und man am Ende bewegt vor dem Ergebnis steht, ist ein seltenes, unbedingt zu begrüßendes Erlebnis. Dabei muss nicht einmal eine völlige Identifikataon mit Werk oder Interpret erfolgen, denn schon eine auch kontrovers führbare Auseinandersetzung mit der Musik darf als Erfolg von intensiv musizierten Aufführungen gewertet werden. Intensität war beim Albertinum-Konzert der Dresdner Philharmonie am vergangenen Wochenende der Schlüssel, der Türöffner zu musikalischen Welten, die schroff aufeinanderprallten und dennoch zur Inspiration einluden.

Da war der schöne Beethoven-Klang des Orchesters in der "Egmont"-Ouvertüre, bei dem man gleich aufhorchte - Michael Sanderling hat die schlanke, flexible Spielkultur für Beethoven in der letzten Zeit derart geschliffen, dass auf dieser Basis hochinteressante Interpretationen möglich werden. Hier war bemerkenswert, dass Sanderling in der kurzen Ouvertüre bei allem Energiestrom Raum für die melodische Entfaltung gab - das war eigentlich in der Summe zu schön, um wahr zu sein.

Vom f-Moll der Ouvertüre ging es in die fast noch düsterere Atmosphäre des c-Moll im 3. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven. Von hier an gab der türkische Pianist und Komponist Fazıl Say den Ton an und schuf eine vom ersten bis zum letzten Ton hochemotionale, für manchen Hörer vielleicht auch ungewohnte Interpretation, die Beethoven beim Wort nahm - nicht im Sinne einer demonstrierten Perfektion, sondern in unbedingtem, persönlichem Ausdruck, der in der Aufführung gemeinsam mit dem Orchester entwickelt wird, sich Bahn bricht. Say war auch in den Pausen präsent, vergrub sich regelrecht vor den Tasten und fand für jeden der drei Sätze eine spezielle, klar ausgeführte Charakteristik.

Selten hat man den 2. Satz mit einer derartigen Einsamkeit umwoben gehört, und auch die schon kompositorisch ringende Unentschiedenheit der Ecksätze wurde durch Says rhythmisch achtsame Phrasierung und durch eine mit Beethoven rustikal ins Gespräch kommende eigene Kadenz bedeutungsvoll. Mit seinem eigenen Klavierstück "Black Earth" als Zugabe kostete Fazıl Say erneut Emotionen von Verlust und Einsamkeit (das Stück ist inspiriert von einem bekannten türkischen Song des Dichters Asik Veysel) aus und verwandelte den Steinway-Flügel mit Abdämpfung der Saiten in ein exotisch anmutendes Instrument.

Von solchen Klangmalereien gab es nach der Pause in Fazıl Says "Mesopotamia Symphony", die als deutsche Erstaufführung erklang, reichlich. Das 2012 in Istanbul uraufgeführte, für eine sehr große Orchesterbesetzung instrumentierte Werk hat nicht nur epische Ausmaße (und leider auch im Albertinum als grenzwertig empfundene Phonstärken), es ist ein Bekenntniswerk besonderer Art, formuliert doch der Ausnahmekünstler Fazıl Say hier in einer fasslichen, dennoch sehr eigenen Musiksprache Gedanken zu seiner Heimat in Musik, die hier nicht in Worte rückübersetzt werden müssen.

In seiner Musik findet Fazıl Say nicht nur Unterschlupf, sondern auch eine universell verstehbare Sprache, die Licht und Schatten der Welt künstlerisch betrachtet, und auch von Wut und Schmerz kündet. Diese Auseinandersetzung führt Say hier in zehn Sätzen ohne Visier, mit plastischen klanglichen Mitteln, die am ehesten an die cineastische Gewalt der Sinfonik von Dmitri Schostakowitsch erinnern. Die stärksten Momente hatte die "Mesopotamian Symphony" in kammermusikalischen Passagen mit versierten Solisten am Schlagzeug (Aykut Köselerli), Bassblockflöte (Cagaty Akyol), Bassflöte (Bülent Evcil) und am Theremin (Carolina Eyck) - vor allem letzteres hört man selten in einem Orchesterkonzert und der Fertigkeit der von Carolina Eyck war es zu verdanken, dass sich das elektronische Instrument sehr überzeugend mit den anderen Flöten-Instrumenten zu einem großen Gesang verband.

Es stimmt nachdenklich, wenn einem auffällt, dass der im Altertum geprägte Begriff Mesopotamien im Sinne einer Kulturlandschaft im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris heute das einzige scheint, was in sich die Hoffnung des Gemeinsamen, des Friedlichen in sich birgt. Davon künden auch die Lieder, die Fazıl Say in seiner Sinfonie zitiert - es ist ein Kulturschatz, den Say dem Vergessen entreisst und gleichzeitig wird im Singen selbst eine Trauer gegenwärtig. Für dieses starke sinfonische Statement, für das sich das Dresdner Philharmonie mit Chefdirigent Michael Sanderling eindrücklich einsetzte, erhielt Fazıl Say am Ende stehende Ovationen des Publikums.
(11.04.16)

Freitag, 8. April 2016

Spielkultur der Spitzenklasse

Bundesjugendorchester gastierte mit de Falla, Schumann und Strauss in Dresden

"Konrad", sprach die Frau Mama, "ich geh' aus und du bleibst da!" - so heißt es in einer Geschichte im "Struwwelpeter". Im Fall des gleichnamigen Maskottchens des Bundesjugendorchesters ist es genau umgekehrt - Konrad befindet sich mit dem Orchester auf großer Fahrt - und hat seinen Platz vor dem Dirigentenpodest, das Publikum kritisch beäugend und im Rücken Dirigent Sebastian Weigle und ein 100-köpfiges Orchester aus Jugendlichen. Das Bundesjugendorchester, 1969 gegründet und in der Obhut des Deutschen Musikrates befindlich, versammelt die besten Nachwuchsmusiker in Deutschland - glücklich können sich die Städte schätzen, die das Orchester bei seinen Tourneen besucht.

Am Montag gastierte es im Rahmen seiner Frühjahrstour im Konzertsaal der Musikhochschule Dresden und krönte damit ein musikalisches Wochenende mit Konzerten der Jungen Bläserphilharmonie Sachsen und des Landesjugendorchesters Sachsen. Was man dem Bundesjugendorchester gar nicht anmerkte, war irgendeine Form von Tourstress (Konzerte in Baden-Baden, Köln und Zwickau sowie eine CD-Aufnahme waren bereits absolviert) oder Aufregung - im Gegenteil: man blickte in fröhliche Gesichter und Dirigent Sebastian Weigle startete das Konzert beschwingt mit den beiden "Dreispitz"-Suiten von Manuel de Falla. Dass bei der höchsten Perfektion der Instrumentalisten und den nur fulminant zu nennenden Interpretationen mit Weigles vollem Einsatz für die Musik die Suite noch einmal angesetzt werden musste, war ein schon fast sympathischer Zug - der erste Einsatz ging ins Leere, der zweite war um so prägnanter.

Und dann breitete sich das spanische Kolorit so natürlich aus, als seien die Musiker gerade eben nicht aus Zwickau, sondern aus Manuel de Fallas sonnengetränkter Villa in Granada angereist. Schon hier verursachten die von Weigle auf den Punkt gebrachten Rhythmen, die von allen Musikern ausgekosteten Bläserlinien und das mit Tempo-Zug vorangetriebene folkloristische Klanggemälde reichlich Gänsehaut. Man ging begeistert mit und erfreute sich an der ungemein hohen Spielkultur des Orchesters, wo keiner für sich selbst spielt, sondern alle aufmerksam Anteil nehmen am Spiel der anderen.

Das setzte sich bei Robert Schumanns Konzertstück für vier Hörner und Orchester fort, getragen von einem Spitzenquartett an den Waldhörnern: die vier Hornisten der Berliner Philharmoniker - übrigens das Partnerorchester des Bundesjugendorchesters - Stefan Dohr, Stefan de Leval Jezierski, Andrej Zust und Sarah Willis waren nicht nur kundige Sachwalter der Komposition, mit der Robert Schumann 1849 der Neuentwicklung des Ventilhorns in höchst virtuoser Weise huldigte. Von den Schwierigkeiten des Werkes bekam man in dieser Aufführung rein gar nichts mit: Weigle fiel mit den ersten frohlockenden Akkorden mit der Tür ins Haus, und das Soloquartett zeigte seine Klasse mit überschäumender Spiellust, so dass man bedauerte, dass Schumann sein Konzertstück gar so kompakt verfasst hatte. Die Tempoangabe des dritten Teils "Sehr lebhaft" namen die Musiker wörtlich: so flott und gleichzeitig volltönend in allen Registern hat man das Stück wohl noch nicht erlebt. Der brausende Applaus wollte kein Ende nehmen, die Zugabe war unausweichlich.

War man schon in der Pause von diesen musikalischen Höhenflügen positiv geplättet, so setzen Weigle und das Bundesjugendorchester im zweiten Teil noch eins drauf. Richard Strauss' Tondichtung "Don Quixote" kommt lediglich in der Geschichte selbst und in Strauss' Überschriften putzig und charmant daher. Das stellt sich in der Partitur allerdings als immense Herausforderung für alle Orchestergruppen dar: abrupt zu vollziehende Charakterwechsel und offen liegende solistische Einwürfe machen das Stück zu einem abwechslungsreichen, durchaus im Cervantes-Sinne "gefährlichen" Abenteuer.

Kein Problem allerdings, wenn man Ludwig Quandt (Berliner Philharmoniker) als Quixote-Cellisten und Teresa Schwamm (Armida Quartett) im Trio mit Euphonium und Bassklarinette als Sancho Pansa in den Hauptrollen zur Verfügung hat. Schafherde und Windmühlen, Liebeszauber und versöhnlicher Ausklang waren hier so intensiv und selbstbewusst von allen ausmusiziert, dass es eine helle Freude war. Mit der Zugabe von Erich Wolfgang Korngolds "Duell" aus der Filmmusik zu "Der Prinz und der Bettelknabe" setzten Weigle und die jungen Musiker einen rasanten Schlusspunkt unter ein großartiges Konzert, und auch Maskottchen Konrad war's zufrieden.
(6.4.2016)

Ein Konzert der Kulturen

Trilaterales Konzertprojekt mit dem Landesjugendorchester Sachsen und dem Europera Youth Orchestra

Zwei große Konzertprojekte veranstaltet das Landesjugendorchester Sachsen jedes Jahr, eines im Frühjahr und eines im Herbst. Es ist ja immer wieder erstaunlich, wie der Nachwuchs innerhalb einer kurzen Probenphase in immer neuen Besetzungen zu einem konzertfähigen, Ensemble zusammenwächst. Das diesjährige Frühjahrsprojekt war als trilaterales Projekt in Kooperation mit dem Europera Youth Orchestra konzipiert, letzteres ist seit einigen Jahren im Dreiländereck Tschechien-Polen-Deutschland beheimatet.

So bestand etwa ein Drittel des Orchesters aus Jugendlichen aus Polen und Tschechien, und während der gemeinsamen Probenphase auf Schloss Colditz gab es sicher viele Möglichkeiten des Austausches, Unterschiede und Gemeinsamkeiten auch in der musikalischen Ausbildung feststellend. Dem Konzert in Dresden am Sonnabend folgten am Sonntag und Montag weitere Auftritte in Jelenia Góra und Liberec. Seit 2015 wird das EYO von Frédéric Tschumi geleitet - ein junger Schweizer Dirigent, der auch beim jetzigen Gemeinschaftsprojekt am Pult stand. Das Motto "Konzert der Kulturen" hätte man schon allein auf die Herkunft der Orchestermitglieder beziehen können, aber mit dem ausgewählten Programm wurde der Kulturbegriff endgültig weltläufig: Hollywood, der Broadway und der in Amerika als Dirigent und Komponist 1891 warmherzig empfangene Antonín Dvořák kamen zu Ehren - damit entstand ein sehr populäres und sicher den Jugendlichen entgegenkommendes Konzertprogramm.

Dramaturgisch wollte das nicht so recht ineinandergreifen, denn die am Computer konzipierten, auf Wirkung bedachten Filmmusiken zu "How to train your dragon" (James Powell) und "Fluch der Karibik" (Klaus Badelt) bewegen sich in einer ganz anderen Ästhetik als die Dvořák-Sinfonie. Dafür waren die jungen Musiker aber sensibilisiert und vor allem auch gut vorbereitet. Zu Beginn war noch etwas Nervosität angesichts des ausverkauften Konzertsaales in der Dresdner Musikhochschule spürbar, doch Tschumi und das große Orchester verbreiteten bald den typischen Hollywood-Klang, der wohl auch deshalb leichtfiel, weil die vorhersehbare, rustikale Machart wenig Herausforderungen bietet - vielleicht nimmt man sich künftig einmal Filmmusiken von Bernard Herrmann, Wojciech Kilar oder Alfred Schnittke vor, um auch innerhalb des Genres durchaus Aufregenderes zu zeigen.

Solistin in George Gershwins "Rhapsody in Blue" war die 24-jährige polnische Pianistin Agnieszka Skorupa, die ihren Weg durch die Rhapsodie mit Bedacht und einem sehr klassischem Zugang wählte - ein wenig mehr Extrovertiertheit hätte dem auch formal schwer zu bändigenden Stück aber auch gutgetan. Solche Passagen blieben meist dem Orchester vorbehalten, das hier vor allem mit packendem Blech-Einsatz glänzte. Nach viel Orchesterwirbel im ersten Teil bedankte sich Agnieszka Skorupa für den großen Beifall mit einer meditativen Zugabe: Arvo Pärts "Für Alina" war der Ruhepunkt vor der Pause - nach welcher man in klassischere Gefilde umschaltete.

Zwar ist Dvořáks 9. Sinfonie "Aus der neuen Welt" ein zur Genüge bekanntes, auch dankbares Stück für ein Jugendorchester - vielleicht war aber bei diesem Projekt das Zusammenschweißen des Ensembles noch nicht ganz auf den Punkt geglückt. Die Interpretation glich beim Hören einer kleinen Achterbahnfahrt: hier das vollkommen glückselig machende Englisch-Horn-Solo im 2. Satz oder auch mutige Holzbläserpassagen, selbst die in der hohen Lage geführte Dramatik in den 1. Violinen im 1. Satz gelang sehr gut. Dann aber gab es an anderer Stelle leicht verunglückte Einsätze und schwierige Intonation - gerade das klassische Repertoire kennt man eigentlich von LJO-Projekten in besserer Gesamtqualität. Dass Frédéric Tschumi an einigen Stellen des Übergangs sichtbar nicht mehr leisten konnte, als möglichst das Gesamtgefüge zusammenzuhalten, ist eigentlich ein Schritt zu wenig. Nur an einigen Stellen im zweiten Satz begann die Musik von innen heraus zu glänzen, merkte man, dass sich die Musiker mit einem gemeinsamen Gedanken wirklich verbanden - von solchen Momenten hätte man sich noch mehr gewünscht.

Bruckner zum Innehalten

Dresdner Philharmonie zu Ostern

Kulturgenuss zu Ostern - von diesem Angebot machte das Publikum der Dresdner Philharmonie an den Osterfeiertagen regen Gebrauch: das Albertinum war zu den beiden Konzerten komplett ausverkauft. Ostergeschenke gab es reichlich, wenngleich nur zwei Werke auf dem Programm standen: das 2. Violinkonzert g-Moll Op. 63 von Sergej Prokofieff und die 4. Sinfonie von Anton Bruckner. Mit dem israelischen Geiger Vadim Gluzman konnte ein bewährter solistischer Partner der Philharmonie gewonnen werden, und der kennt sich bestens mit Sergej Prokofieff und der Konzertliteratur insbesondere des 20. Jahrhunderts aus.

So war seine Interpretation des 2. Violinkonzerts auch eine einzige Freude: Gluzman hat einen strahlenden Ton und verbindet das motivische Material des Stücks mit rhythmischer Verve, die stets natürlich wirkt, im dritten Satz auch den derb-tänzerischen Charakter betont. Die klassischen Wurzeln dieses Konzerts, die Prokofieffs Satz nie verleugnet, waren in dieser Lesart sehr schön spürbar, den Rest erledigt Gluzmans Spielwitz und Sinn für gut getimte Phrasengestaltung. Chefdirigent Michael Sanderling bewies sich mit dem Orchester als klanglich sensibler Partner, wobei man sich im ersten Satz noch etwas gegenseitig abtastete. Hier spielte mehr prozesshafte Entwicklung eine Rolle, war noch nicht alles auf den Punkt gebracht. Das fulminante Finale des Konzerts forderte großen Beifall heraus, Gluzman bedankte sich mit Johann Sebastian Bach - frei von Pathos und klar wie ein Glas Wasser.

Anton Bruckners 4. Sinfonie ist die wohl populärste seiner neun Sinfonien - ausgerechnet diese Sinfonie wurde vom zweifelnden Komponisten allerdings gleich mehrfach überarbeitet. Gerade im kontrastreichen Finale sind die verschiedenen Lösungen, die die motivische Entwicklung anbot, auch in der Fassung der "letzten Hand" noch spürbar, im Gegensatz dazu sind der 1. Satz und das Scherzo von sicherer Form- und Klanggebung. Michael Sanderling lotete diese Sphären von selbstbewusster, auch vorwärtsgerichteter Spannung mit dem Orchester gut aus. Wertvolle Unterstützung erhielt er durch Jörg Brückner am 1. Horn. Der ehemalige Philharmoniker (heute 1. Hornist bei den Münchner Philharmonikern) erhielt einen großen Sonderbeifall für die solistisch wie im Quartett herausragende Leistung.

Von seiner innigen Motivausformung im 1. Satz ging auch der Gesamtcharakter der Sinfonie aus, der mit dem Adjektiv "romantisch" eigentlich nur unzulänglich erfasst ist. Sanderlings Lesart dieser Sinfonie war - besonders im 2. Satz und im Finale - äußerst detailgenau, manchmal auch etwas zu detailverliebt, was Nebenstimmen und harmonische Entwicklungen anging. Weniger auffällig war die Pulsierung des Werkes berücksichtigt, gerade im Finale erlaubte sich Sanderling im Grundtempo Freiheiten, die zwar überraschend mit Gaspedal und Bremse spielten, aber in dieser Lesart wurde stark der einzelne Moment in den Vordergrund gerückt. Trotzdem, und das war das Interessante dieser Aufführung, entstanden so Augenblicke, in denen man innehalten konnte, das Bekannte plötzlich ein sensibles, auch zerbrechliches Klanggewand erhielt - die Größe der Musik entstand vor den Ohren neu.

Vielfarbiges Chor- und Orchesterkonzert

Hochschulmatinee in der Semperoper mit Arroyo, Beethoven und Schubert

Facettenreich gab sich das chorsinfonische Konzert, das die Musikhochschule Dresden als Matinee in der Semperoper veranstaltete. Dem Hochschulchor war zwar nur eine Konzerthälfte vorbehalten, doch mit Franz Schuberts Messe Es-Dur stand ein gewichtiges, bis in heutige Zeiten faszinierendes Spätwerk des Komponisten auf dem Programm. Vor dem Konzert wurde, übrigens zum nunmehr 20. Mal, das Carl-Maria-von-Weber-Stipendium der Dresdner Stiftung Kunst & Kultur der Ostsächsischen Sparkasse verliehen. In diesem Jahr erhält es der gebürtige Chemnitzer Pascal Kaufmann, der an der Dresdner Hochschule sowie an der Kirchenmusikhochschule Orgel studiert und schon mehrfach durch Konzerttätigkeit in Dresden sowie originelle Bearbeitungen und Improvisationen an seinem Instrument aufgefallen ist.

Zu Beginn des Konzertes stellte Ekkehard Klemm am Dirigentenpult mit dem Hochschulsinfonieorchester ein neues Orchesterwerk des in Dresden studierenden spanischen Komponisten Alberto Arroyo (geb. 1989) vor: "Se una notte..." bezieht seine Inspiration aus Italo Calvinos Roman "Wenn ein Reisender in einer Winternacht". Das Ungefähre, Nebulöse und Schemenhafte wird hier zum Thema und Arroyo findet dafür interessante, zerbrechliche Klangfarben. Nur einmal schwingt sich das Stück zum forte auf, und versiegt dann über einige Bläserfiguren, die von den Seitenlogen im Rang erklingen. Klemm erreichte mit den jungen Musikern eine in der Dynamik sensible Darstellung, zu einem Mehr als einem hübschen Tableau interessanter Klangzusammenstellungen kam es jedoch nicht.

Traditionell stellen sich in den Orchesterkonzerten der Hochschule auch Solisten der Instrumentalklassen mit einem Konzertwerk vor, am Sonntag war es der chinesische Pianist Mu Xu (Klasse Prof. Arkadi Zenzipér), der sich Ludwig van Beethovens 1. Klavierkonzert C-Dur vornahm. Das gelang ihm erfreulich gut, da er sich viel Mühe mit der Artikulation der Themen gab und zumeist in Ruhe die Musik ausgestaltete. Ein wenig hatte man den Wunsch, Mu Xu könne sich durchaus noch etwas mehr persönliche Zeichnung trauen - die technischen Fähigkeiten dazu besitzt der junge Pianist in jedem Fall.

Nach der Pause dann füllte sich die Bühne der Semperoper mit dem über 100 Stimmen starken Hochschulchor, dem studentische Sänger, Schulmusiker und Instrumentalisten angehören. Dies sei erwähnt, weil es sich eben nicht um einen professionellen Chor handelt. Dennoch hatten Karl Hänsel und Olaf Katzer die Aufführung sehr gut vorbereitet und Karl Hänsel (Klasse Prof. Hans-Christoph Rademann) hatte am Sonntag die Leitung inne. Seine Interpretation der Schubert-Messe entstand mit viel Überlegenheit und klarer Führung von Chor und Orchester. Hänsel bevorzugte flüssige, aber nicht zu schnelle Tempi und setzte auf eine weiche Klanggebung. Bei den Parts des Solistensextetts (Jiheon Lee, Teaa An, Aneta Petrasová, Seonsoo Ryu, Christopher Renz und Jussi Juola) führte dies zu einer unerwartet zurückhaltenden Musizierhaltung. Transparent und homogen waren die Chorfugen ausgeführt und man freute sich, dass diese große Masse an Sängern doch an vielen Stellen fast kammermusikalisch geführt wurde, lediglich manche Steigerungen wie etwa zu Beginn des "Sanctus" hätten noch etwas mehr Intensität erfahren dürfen.

Neue Welten, andere Welten.

Rachmaninow und Dvořák im Albertinum-Konzert der Dresdner Philharmonie

Quasi auf der Durchreise konnte man die Dresdner Philharmonie am vergangenen Wochenende im Lichthof im Albertinum erleben - das Orchester befindet sich gerade auf einer kleinen Tour durch Deutschland und hatte bereits Konzerte in den Philharmonien in Berlin und Köln absolviert. Nach dem Gastspiel zu Hause packten die Philharmoniker erneut die Koffer und gastierten am Sonntagabend noch im Gasteig in München. Auf diese Weise bekamen die Konzerte sicher eine andere Atmosphäre als ein übliches, im Probenzentrum am Waldschlößchen vorbereitetes Konzert, und eher ernüchternd-gewohnt dürften die akustischen Begrenzungen des Albertinums nach den Konzerten in Köln und Berlin ausgefallen sein.

Dafür aber war aber der Saal in Dresden zweimal komplett ausverkauft. Das dürfte zum einen am Programm gelegen haben, das ausschließlich spätromantische Klassiker enthielt, zum anderen am Solisten des Abends, Nobuyuki Tsujii. Der 27-jährige japanische Pianist, von Geburt an blind, gewann vor sieben Jahren den hochangesehenen Van Cliburn-Wettbewerb und ist seitdem auf den Bühnen der Welt zu Hause. Mit der Philharmonie erarbeitete er das 3. Klavierkonzert d-Moll von Sergej Rachmaninow, das für viele junge Pianisten einen Markstein in der Karriere bildet. Absolut anzuerkennen ist, welch enorme Leistung die Leidenschaft für die Musik bei Tsujii entfacht.

Als Zuhörer wurde man sofort wach, weil die Sinne sich viel stärker dahin konzentrierten, wo sie ohnehin bei Musik hingehören - zum Hören selbst. Tsujii arbeitet damit ausschließlich und hatte keine Probleme, dem Orchester zu folgen, auch seine Technik ist beeindruckend. Interpretatorisch scheint dieser Rachmaninow aber aus einer anderen Welt zu stammen. Nobuyuki Tsujii hatte für die Themenvorstellung noch eine schöne Gestaltung übrig, näherte sich der komplexen Partitur aber meist mit einer nüchternen, zuweilen mechanisch wirkenden Haltung. Über eine gewisse Art von Organisation wies seine Interpretation selten hinaus, die differenzierenden Möglichkeiten gerade des Anschlags waren insbesondere in größeren Steigerungsbögen begrenzt. Die Ruhe und Konzentration, mit der Tsujii hier die Phrasen ein ums andere Mal anging, spricht jedoch für eine Innigkeit und Verbundenheit mit der Musik, der man sich mit Respekt nähern sollte und die hoffentlich nicht ausschließlich von Agenten im Hintergrund bestimmt wird. Chefdirigent Michael Sanderling folgte mit den Philharmonikern behutsam, die hier spürbare Konzentrationsleistung verhinderte jedoch manches Freispielen, das erst im dritten Satz besser wurde.

Gerahmt wurde das Klavierkonzert von zwei Werken von Antonín Dvořák. Die offenherzig-fröhliche Konzertouvertüre "Karneval" ließ Sanderling zu Beginn des Konzertes mit viel Esprit musizieren, die etwas loser gefassten Zügel vom Dirigentenpult sorgten für eine schöne Atmosphäre. Ein Spiel voller Sorgfalt bis in kleinste Details hatte sich Sanderling für die 9. Sinfonie e-Moll "Aus der neuen Welt" aufgehoben und hier gelang sogar der Spagat, Perfektion und frei schwingende Musikalität in den oft gar nicht genau zu bezeichnenden Einklang zu bringen, bei dem ungeahnt im Miteinander große Momente entstehen. Natürlich ist das Englisch-Horn Solo, exzellent vorgetragen von Volker Hanemann als Gast an diesem Pult, hier zu erwähnen, aber von immenser innerer Spannung war auch der Streichersatz des 2. Satzes getragen. Ebenso erfreute man sich am durchweg atmenden und wunderbar ausphrasierendem Zusammenspiel der Holzbläser, und auch die warm tönenden Einsätze des Blechs im piano schienen nahezu vergoldet. Vielleicht hat Tsujii mit seinem Spiel ja eine besondere Sensibilität auch für die Sinfonie hervorgekitzelt - eine solch runde, in den Tempi von Sanderling feinnervig-flüssig angegangene Interpretation dieser so bekannten Sinfonie ließ packende Hörerlebnisse entstehen, somit wahrlich "neue Welten".

Ehrung für Sofia Gubaidulina

Sächsische Staatskapelle stellt Konzertsaison 2016/2017 vor

Einen Tag nach der Saisonvorstellung der Semperoper stellte auch die Staatskapelle Dresden ihr Jahresprogramm für 2016/2017 vor. In der Gläsernen Manufaktur von Volkswagen kündigte Chefdirigent Christian Thielemann die Fortsetzung seines Bruckner-Zyklus an - die neue Spielzeit wird am 2. September mit dessen 3. Sinfonie d-Moll eröffnet. Ihm zur Seite musiziert der neue Capell-Virtuos, der junge russische Pianist Daniil Trifonov, der laut Thielemann "derartig begabt sei, dass man Angst vor ihm bekommt" - von seiner Spielkunst kann sich das Dresdner Publikum in mehreren Konzerten und einem Rezital überzeugen, Werke von Mozart, Ravel und Schumann stehen dabei im Mittelpunkt. Thielemann dirigiert weiterhin ein Konzert mit Werken von Tschaikowsky und Liszt, hat Schönbergs großes Orchesterwerk "Pelleas und Melisande" ins Programm genommen und leitet in der Semperoper ebenso das Silvesterkonzert am 30. Dezember 2016 sowie einen Festakt zu den Dresdner Einheitsfeiern am 3. Oktober.

Einen deutlichen Schwerpunkt im Programm der Saison werden Werke der neuen Capell-Compositrice bilden. Erstmalig wird diese Residenz zum zweiten Mal an die gleiche Person verliehen, nicht, weil es nicht genug spannende Komponisten auf dem Planeten gäbe, sondern weil sich die Staatskapelle Dresden nach einer bereits begonnenen, intensiven Zusammenarbeit mit Sofia Gubaidulina dazu entschlossen hat, diese fortzusetzen und damit gleichzeitig ihren 85. Geburtstag zu würdigen. Diese Residenz fällt umfassend aus - neben einem neuen Orchesterwerk namens "Der Zorn Gottes", das Christian Thielemann selbst dirigieren wird, hat sie ihr für Dresden begonnenes und während der Residenz 2014/2015 erfolgeich uraufgeführtes "O komm, Heiliger Geist" nun zu einem Oratorium komplettiert, es wird von Omer Meir Wellber, Solisten und dem MDR-Chor im 3. Sinfoniekonzert erstaufgeführt.

Weitere Stücke von Gubaidulina erklingen in Sinfoniekonzerten, Aufführungsabenden und einem ihr gewidmeten Porträt-Kammerkonzert in der Schlosskapelle. Bei insgesamt 17 aufzuführenden Kompositionen kann man von einer umfassenden Werkschau sprechen, die es so noch nicht in einer Saison der Kapelle gegeben hat. Diese intensivere Art der Residenz soll aber auch in den kommenden Jahren fortgesetzt werden, so Dramaturg Tobias Niederschlag. Der erste Gastdirigent der Staatskapelle, Myung-Whun Chung, wird seinen Mahler-Zyklus mit der 5. Sinfonie cis-Moll fortsetzen, er leitet zudem auch das Gedenkkonzert am 13. Februar mit dem Fauré-Requiem und ist im Januar 2017 gemeinsam mit Solisten der Staatskapelle als Pianist im jährlich im Meetingpoint Music Messiaen aufgeführten "Quatuor pour la Fin du Temps", das Messiaen 1941 dort in der Gefangenschaft komponierte, vertreten.

In der Schar der bekannten und berühmten Dirigenten sind in der kommenden Saison viele Namen erneut vertreten, die schon seit Jahren erfolgreich mit der Staatskapelle zusammenarbeiten, wie etwa Donald Runnicles oder Vladimir Jurowski. Es wird ein lang erwartetes Wiederhören mit Daniel Harding (Dvořák und Mahler) geben, und selbstverständlich wird Herbert Blomstedts 90. Geburtstag gebührend begangen - mit Beethoven und Bruckner wird der große Dirigent das Dresdner Publikum und sich selbst beschenken. Zu den Solisten der Sinfoniekonzerte zählen weiterhin Andras Schiff, Maria Joao Pires, Matthias Goerne, Lisa Batiashvili und das Borodin Quartett. Fortgesetzt wird auch das Palmsonntagskonzert mit Reinhard Goebel, dann unter anderem mit dem "Dettinger Te Deum" von Georg Friedrich Händel.

Auf Tour erlebt man die Sächsische Staatskapelle im nächsten Jahr in den großen Musikzentren Europas. unter anderem in der neu eröffneten Elbphilharmonie in Hamburg. Besonders freut sich Christian Thielemann auf eine Residenz in der Suntory Hall in Tokio, bei der auch Richard Wagners "Rheingold" in einer halbszenischen Fassung auf dem Programm steht. Der Vorverkauf für die neue Saison der Sächsischen Staatskapelle beginnt wie der der Semperoper am 21. März 2016.
(4.3.2016)

Donnerstag, 17. März 2016

Rückblick und Vorfreude

Philharmonie-Intendantin Frauke Roth zieht Bilanz

Seit Januar 2015 ist Frauke Roth als Intendantin der Dresdner Philharmonie im Amt - gestern lud sie zu einem Pressegespräch in die Räume des Orchesters am Waldschlößchen, um die Bilanz des ersten Jahres zu ziehen. Und diese fällt sehr positiv aus. In der Vorstellung der Kennzahlen des Orchesters entwickeln sich im Vergleich zum Vorjahr vor allem die Abonnentenzahlen gut. Derzeit halten über 7000 Abonnenten der Dresdner Philharmonie die Treue - Tendenz steigend. Das, so Frauke Roth, sei etwas Besonderes in einer schwierigen Interimszeit ohne feste Spielstätte. Die verschiedenen Konzertstätten und Formate der Philharmonie seien gut angenommen und auch in der Interimszeit neu entwickelte Angebote wie etwa die Apéro-Konzerte im Hygiene-Museum erfreuen sich des Zuspruchs.

Die Auslastung der Plätze liegt derzeit bei 83%, auch dies ist eine Steigerung zum Vorjahr. Fernab aller Zahlen und Bilanzen, die natürlich auch hoffnungsvoll für die weitere Planung und für eine sichere Verwurzelung der Philharmonie in der Stadt sprechen, war im Gespräch vor allem die Aufbruchsstimmung spürbar, die sich mit der Eröffnung des neuen Konzertsaales im umgebauten Kulturpalast verbindet. Der Termin steht und wurde von Oberbürgermeister Dirk Hilbert vergangene Woche auf der ITB Touristikmesse in Berlin verkündet: am 28. April 2017 findet die schwierige Interimszeit der in der eigenen Stadt konzertierend reisenden Philharmonie ihr Ende. Somit blicken alle nach vorn und die Vorfreude ist schon insofern berechtigt, da bekanntermaßen in anderen Städten große Bauvorhaben im Kulturbereich mit wenig Glück im konsequenten Fortschritt gesegnet sind.

Orchestervorstand Peter Conrad betonte, dass die Stimmung im Orchester sehr gut sei - man blicke jeder Neuigkeit zum neuen Saal und vor allem den anstehenden Akustikproben mit Spannung entgegen. Gerade erst war die Philharmonie bei ihrer Tournee mit den Konzertsälen in Berlin, Köln und München konfrontiert, die Rückkehr in die Interimsspielstätten in Dresden sei, so Frauke Roth, bei aller guter Partnerschaft zu Schauspielhaus und Albertinum, natürlich ernüchternd. Dennoch habe das Orchester in diesen engen Grenzen und mit manchen Kompromissen nicht nur eine konstant stabile Leistung für sein Publikum gezeigt, sondern auch seine Vielfalt und Eigenheit bewahrt. Mit dem Rückenwind eines positiven ersten Amtsjahres startet Frauke Roth mit dem Orchester nun im Sommer in die letzte Spielzeit auf fremden Bühnen - ab dem Frühjahr 2017 hat die Dresdner Philharmonie wieder ihren Platz inmitten der Stadt, dies sei auch ein wichtiges Signal. Die offene, international geprägte und weithin geschätzte Arbeit des Ensembles in den Bereichen Kultur und Bildung werde dann wieder von innen heraus zu den Menschen gebracht. Die Vorstellung der Konzertsaison 2016/2017, in die auch der Eröffnungstermin im April 2017 fällt, wird am 17. Mai stattfinden.

Freitag, 12. Februar 2016

Kan Kun

zu meiner Uraufführung "Kan Kun" (11. Februar, Dresdner Kammerchor, Ltg. Hans-Christoph Rademann) stelle ich hier den Programmhefttext zur Verfügung.

Kan Kun für gemischten Chor (2015/2016)
»Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«
— Paulus, 1. Brief an die Korinther, 13

Sehr früh stand als Motto für das vierte Jubiläumskonzert des Dresdner Kammerchores das Motto „Dresdner Stimm/ung/en“ fest, auf das ich mich auch explizit bei der Komposition beziehen wollte. Wie es bei meinen Stücken meistens der Fall ist, konstruiere ich nicht einen Bezug oder Zusammenhang, sondern die Texte und Hintergründe springen mich meist an, hinterlassen einen Klang oder eine schlaglichtartige Struktur, ein Nachwirken, das sich auf das Papier bahnt So wurde ich auf das Projekt „Glaube, Liebe, Hoffnung - Nachrichten aus dem christlichen Abendland“ des Digitalen Textkollektivs „0x0a“ (Hannes Bajohr, Gregor Weichbrodt) aufmerksam. Über ein Scraping-Script hat 0x0a über mehrere Monate Kommentare der facebook-Pegida-Seiten gesammelt. Es entstand ein Textkorpus von über 282.000 Kommentaren, die ungefiltert gesammelt wurden und als Datenbank jedem zur Verfügung stehen.

Später wurden Kommentare mit einem Filter versehen, der den Äußerungen ein Gegenüber verleiht: „Indem die angeblichen Verteidiger des christlichen Abendlandes mit den paulinischen Tugenden von »Glaube, Liebe, Hoffnung« konfrontiert werden, lassen wir sie selbst artikulieren, was sie glauben, lieben und hoffen. Dass vor allem Deutschland geliebt wird, überrascht weniger als die Wünsche der Kommentatoren, die von Umsturz- und Gewaltfantasien bestimmt sind.“ (0x0a) - Der 1. Satz meines Stücks „Kan Kun“ ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Textkorpus. Weniger ist es eine Vertonung denn eine willkürlich-willentliche Auswahl von etwa 260 Kommentaren, die von den 36 Stimmen in Stimmung und Wort-Klang umgesetzt werden. Dabei ist der Inhalt in dieser Massierung fast zweitrangig, viel mehr interessierte mich bei der Umsetzung die erlebte Tatsache der permanenten und in unserer Informationsgesellschaft allgegenwärtigen Äußerung - der Aktion, der ständig eine Reaktion folgt, und in deren Massierung Undeutlichkeit, Verformung und Überforderung entstehen.

Diese Aufhäufung erzeugt wiederum einen Klang, einen Ausdruck. Zu den individuellen Äußerungen gesellen sich Parolen, die Dresdner derzeit Woche für Woche auf der Straße hören, doch auch diese sind verfremdet vertont: durch die ausschließliche Benutzung von Anagrammen dieser Hetzrufe entstehen zwar neue Bedeutungen, die Geste allerdings bleibt gleich. Das Wort-Klangstück wird schließlich wie im Textkorpus selbst vom Chor mit dem Korintherbrief konfrontiert - ich habe allerdings nicht den 13. Vers wiederholt, sondern mit den davor stehenden Versen 9 und 12 eine weitere Ebene der Deutung - Stückwerk und Spiegel - eingebracht.

Im 2. Satz wird erneut ein Klang unserer Zeit gesucht, hier ist es ein Tweet (eine 140-Zeichen-Nachricht aus dem sozialen Netzwerk Twitter) des französischen Premierministers Manuel Valls, der einen Tag nach den Anschlägen von Paris, am 14. November 2015, der Welt verkündete: „Wir sind im Krieg. Wir ergreifen außergewöhnliche Maßnahmen. Und diesen Krieg werden wir gewinnen.“ - Die innere Ambivalenz dieser Äußerung stellt der Chor in einer Nachzeichnung dar, der Chor wird hier selbst zum Hörer, der daraus ein sich in immer neuer Weise „zuschnürendes“ Gefühl formt.

Schließlich - auch das ist eine „Dresdner Stimm/ung/e“ - wird im dritten Satz mit einem chinesischen Gedicht der Blick nach innen gerichtet. Das Bild des „stummen Äugens über das Land“ kann Kontemplation bedeuten, es umfasst aber auch das pure Grauen, wenn dieses Land tatsächlich nur noch im Wunschdenken des inneren Auges existieren sollte. Eine Flucht nach innen erscheint sinnlos, weil wir das Außen mit nach innen nehmen, und umgekehrt. „Kan Kun“ - das achte Hexagramm im I Ging, erschien mir schließlich als thematische Klammer und Titel auf der Hand liegend. In diesem Hexagramm liegt das Wasser über der Erde - beides bedingt einander und sichert Stärke: Kan Kun - das Zusammenhalten.
Ich danke Hannes Bajohr und Gregor Weichbrodt.
Textkorpus „Glaube, Liebe, Hoffnung“

(c) Alexander Keuk

Montag, 29. Februar 2016

musik. notizen.

Unter dieser Überschrift fasse ich Gedanken zu Musik zusammen, die in keine Rezension passen und die keinen literarischen oder wissenschaftlichen Anspruch erheben. Sie kommen mir beim Hören oder Nachhören, sind Einblick in mein Musikdenken, bruchstückhaft, vergänglich, widersprüchlich. Ich schreibe hier nicht von Wahrheiten und Korrektem, sondern von Eindrücken, Bildern, Emotionen und Fragen, die sich mir selbst stellen. Der Blogeintrag wird fortlaufend ergänzt.

Konzert: 5. Sinfoniekonzert der Staatskapelle Dresden, 23.1.2016
Gustav Mahler, Blumine-Satz. Ich wundere mich, dass ich als Mahler-Liebhaber diesen Satz weder jemals live gehört habe, noch kann ich mich überhaupt an diese Musik erinnern, scheinbar besitze ich auch keine Aufnahme. Ein Debüt also? Das Stück ist unverkennbar Mahler, aber mir wird sofort klar, warum dieser Satz aus der 1. Sinfonie verschwinden musste. Nicht weil mit der Fünfsätzigkeit ein Rahmen gesprengt würde, ich glaube eher, weil Mahler das Thema selbst auf die Nerven gegangen sein dürfte und derartig leichtfüßige Motivik ohnehin in der Sinfonie genug zu finden ist. Also eher ein dramaturgischer Kniff, um die Spannung der Satzfolge zu erhalten. Für sich genommen taugt das Stück eigentlich wenig, es ist maximal ein Mahlersches Lied ohne Worte, mit einer netten Trompetenaufgabe versehen.

Ravel, Valses Nobles et Sentimentales. Zwar mir nicht gänzlich unbekannt, aber eher ein Werk, dass in der Vergangenheit kaum Aufmerksamkeit bei mir erzeugte, anders als es beispielsweise die Kraft und geschickte Komposition von "Alborada del Gracioso" beim ersten Hören tat. Zudem outet sich Ravel als Materialzweitverwerter - gut die Hälfte von "La Valse" ist in diesem früheren Werk harmonisch wie in der Orchestrierung angelegt. Dass der letzte Walzer im piano verdämmert, irritierte selbst das Publikum in der Semperoper - wie überhaupt der ganzen Partitur ein merkwürdiges Schimmern innewohnt. Vermutlich ist es eines der besten Beispiele des Fin de Siècle (und Ravel war sich dessen sicher nicht bewusst) in seiner Ungelungenheit zwischen französischer Eleganz - der Klavierfassung darf man zudem den Ruch der Perfektion bescheinigen -, Wiener Überschwang und einer leichten Naivität, der Ravel wohl immer wieder erlag, um den eigenen Zweifler in sich ruhigzustellen.

Konzert Philharmonie, 6.2.
Honegger Jeanne d’Arc au bûcher
Was sind das denn für groteske Szenen innerhalb eines eigentlich todtraurigen, dramatischen und geistlichen Oratoriums? Das ist ja komplett alles von Honegger so angelegt und führt zu einem merkwürdigen Zerrbild, Mittelalter nicht als grausame Realität sondern als Opera buffe? Oder wem wollte er da eins über das Ohr hauen? Etwa dem zeitgenössischen Katholizismus Frankreichs? Ich rätsel.

Gedenkkonzert Philharmonie, Kreuzkirche 13.2.16
Barbers Adagio funktioniert auch in der Chorfassung nicht. Eine einzige Sülze aus Akkorden, die so aneinandergeschichtet sind, damit sie DIE EINE Wirkung hervorrufen und keine andere. Das aber hat mit Kunst und mit Komposition nichts zu tun. Im Gegenteil: würde man das Stück in einem herkömmlichen, nicht programmatischen Konzert aufführen, würde jeder fragen: moment, wer ist tot? Man müsste also künstlich noch jemanden aus dem Anlass der Aufführung des Stücks heraus um die Ecke bringen, damit das Stück sich nicht selbst im Wege steht.
Gegeben wurde auch Peteris Vasks "Dona nobis Pacem" , ein Paradebeispiel dafür, wie man Bach falsch verstehen kann und diatonische Skalen, falsch angewendet, nur noch Leere und Hohlheit vermitteln. Ich gebe zu, dass die Tränendrüse bei anderen Zuhörern leichter zu aktivieren ist als bei mir, aber wenn man mir die Emotion um die Ohren derartig offen um die Ohren haut ("sei gefälligst traurig!", "hörst du den Trost in dem Mollakkord?", "habe Mitleid mit der absteigenden Tonleiter"), dann gehen meine ansonsten neugierigen Ohren leider zu.

Zwischendurch im Radio: Don Quixote von Richard Strauss, wahrlich ein entsetzliches Stück, wenn man nur mal diese Hauptthemen nimmt, die wie ein schlecht gezeichneter Comic wirken. Er komponiert etwas tapsig-derbes, und das klingt dann tapsig-derb, aber wer will denn so einen Schmarren hören? Dann doch lieber Cervantes lesen. Während ich diese Tirade gegen Strauss schreibe, boxt mir seine Rechte mit brillanter Instrumentation in den Magen, Elektra, Salome und die Metamorphosen hinterherwerfend. Dieser Hund.

7. KapellKonzert Andris Nelsons dirigiert Britten, Zimmermann, Schostakowitsch, 26.2.16
Zimmermann Trompetenkonzert "Nobody knows de trouble I see"
Zum einen: diese unglaubliche Kopfmusik von Zimmermann. Diese geilen Ideen, die durch den Hirnschredder laufen, Ebene um Ebene türmen und letztlich unbrauchbar werden. Tollste Instrumentierung und dann aber eine Sprache, ein Ergebnis, das nur noch mit sich selbst ringt, durch die Musik nicht ins Außen findet, das ist so jammertraurig.

Schostakowitsch 8. Sinfonie - wieder mal ein Baustein im Gefüge: CBC am Anfang - CDC am Ende, diese Sinfonie ist komplett ZENTRIERT, sie schwankt nicht, sondern hat einen derartig sicheren Boden wie ein Ausgleichspendel in einem Wolkenkratzer, vor jedem Erdbeben geschützt. Und dann dieses Entsetzen mittendrin. Und der 5. Satz, den ich nicht verstehe, der wie eine Matrix hinter die Apokalypse (3. Satz mit dem "NICHTS-Largo" hintendran) gequetscht ist. Warum bloß? Sieg der Naivität, des einfachen Gedankens? Womöglich wieder ein Zugeständnis an wohlfeile sowjetische Musik? Was die Neunte dann überspitzt, klingt hier (ich rede von den scherzando/Allegretto-Passagen im letzten Satz) wie gewollt, aber nicht gekonnt, und schon gar nicht gefühlt. Musik, die keine Antworten gibt, weiterhin. - Ein weiterer Gedanke: es ist das traurigste C-Dur der Musikgeschichte, das da am Ende 33 Takte in den Streichern schimmert. Wie überhaupt die ganze Sinfonie - in einer kompetenten Interpretaion, wie ich sie bei Nelsons wahrgenommen habe - eine unglaubliche Traurigkeit erzeugt.

Schuberts "Große"
Wenn es überhaupt eine Sinfonie gibt, an der man gute und schlechte Dirigenten SOFORT erkennt, dann diese. Ein Stück, das aber auch nun mal gar nicht, überhaupt nicht mit zwei, drei Proben runterzudirigieren ist, was leider auch den Alltag in den Philharmonien darstellt. Was Schubert hier in nahezu avantgardistischer Art ausbreitet, ist eine immense Herausforderung, denn ein falsch betonter Takt, ein spannungsloser Übergang, und ein ganzer Satz, ja die ganze Sinfonie kann derartig in die Bedeutungslosigkeit kippen, dass man es als Hörer fast Schubert anlasten möchte, aber genau darin liegt die Crux. Das Stück ist so genial und gleichzeitig eine Bestie, dass es absoluten Nachvollzug auch noch vom letzten Streicherpult fordert. Vermutlich habe ich deshalb auch noch nie eine Aufnahme oder ein Konzert gehört, das mich restlos befriedigt. Vielleicht gibt es das gar nicht, soll es das nicht geben. Zeichnet man diese Sinfonie zu scharf und missversteht ihre unterkühlte Dramatik, bekommt man ihre Längen um die Ohren gehauen. Widmet man sich der Länge und sucht den großen Bogen, verwischen die Konturen und man übersieht die harmonischen Feinheiten zu leicht. Ein gordischer Knoten.

Strawinsky, Pulcinella-Suite
Ein Stück, mit dem ich in diesem Leben nicht mehr warm werde. Was haben die (Dhiagilew, Strawinsky) sich bloß dabei gedacht? Ein Fisch, der nurmehr als Gräte tanzt.

Mahler, 8. Sinfonie Es-Dur
Nachdem heute das Finale wieder als innerer Ohrwurm mit mir tanzte, begriff ich langsam, dass Mahler ein doppeltes Requiem geschaffen hat. Eines, das ihn komplett überfordert hat in der schon fast irregulären Vermischung von Pfingsthymnus mit dem zweiten Teil des Faust. Und auf eine hier noch nicht erklärbare Weise missversteht er beides und schafft dadurch etwas Neues, nämlich im ersten Teil statt eines Geisteshauchs ein seltsam profanes Babylon, eine Neuzeit-Verirrung, und im 2. Teil geht er nahezu mit Strauss'schem Illustrationseifer an einen Text heran, an dem sich schon ganz andere die Notenblätter und Theaterbretter zerbissen haben. Und dann dieser Triumph am Ende, der am besten funktioniert, wenn man ohnehin keinen Text mehr versteht (beim langsam-gebrüllten Bernstein geht's am besten), das ist eigentlich die schönste (Prae-)Totenmesse, die man sich vorstellen kann (bloß für wen?), ein sattes Zurücklehnen in den Sarg, Requiem Eins, fini. Und legt man nach der Achten gleich die Neunte auf, so ist plötzlich alles Äußerliche weg, alle "Tausend" sind weg, die Stühle leer, egal, wo man sich auch hinwendet, man trifft niemanden mehr - außer seinem eigenen Spiegelbild. Und erschrickt. Requiem zwei. -- Ich könnte nun noch darüber spekulieren, ob die begonnene Zehnte nicht noch eine Idee verfolgt, die natürlich acht und neun überwunden haben muss - was in transzendente Felder des Jenseitigen führt, aber das lasse ich für heute...

Traum CXVIII

Der Traum war zweiteilig und leider sind nur noch einige Bilder und Fragmente vorhanden, die in beiden Teilen keinen wirklichen Sinn ergeben:
1) ich komme in W an, soll auf ein Kind aufpassen, das eingewickelt in Decken ist, ich trage den Kindersitz für den "M1" zu meinem Audi, das Kind ist alleine unterwegs an der Blücherbrücke, ich hole noch jemand zweites ab, die Autos fahren um das Kind herum.
2) ich bin in Nürnberg, übernachte im DG, eine bekannte Wohnung, in der die Treppen in der Mitte des quaderförmigen, einräumigen Wohnbereichs liegen, gegen vier Uhr in der Nacht kommt Nina (ich schreibe hier den vollen Namen, da es sich um eine von Bild und Stimme her mir vollkommen unbekannte Person handelt) von einer Reise zurück, ihr Bruder ist auch da, Nina ist mir sehr zugetan. Später soll ich sie beschreiben, ihre Körpergröße gebe ich erst mit 1,80 an, reduziere dann aber auf 1,75.

Sonntag, 28. Februar 2016

Teuflisch gut.

Paganini mit Violine und Gitarre bei den Meisterkonzerten Albrechtsberg

Es ist sicherlich eine Betrachtung wert, wenn man feststellt, dass bestimmte Instrumente eher selten den Weg auf das klassische Konzertpodium finden. Dann aber ist meistens um so erstaunter, was Komponisten und Virtuosen dieser Instrumente für außergewöhnliche Klangwelten zu erzeugen imstande waren und sind.

Für die Gitarre gilt dies in besonderer Weise, schwankt doch ihre Präsenz im Konzertsaal je nach musikalischer Epoche, aber auch in den verschiedenen Kulturkreisen wurde sie mit unterschiedlicher Vorliebe behandelt: in Spanien etwa ist sie in der Kunstmusik nicht wegzudenken, im deutschen Kulturraum gilt sie eher noch als das jedem zugängliche Volksinstrument. Gitarre spielen kann jeder? Das wird sich vielleicht auch der eine oder andere Konzerthörer beim Meisterkonzert im Schloss Albrechtsberg kurz vor dem Beginn gedacht haben, aber spätestens bei den ersten sorgsam erzeugten Tönen des Finnen Ismo Eskelinen war klar, dass hier ein Meister auf dem Podium sitzt.

Denn mit einer großen Auswahl von Werken des Teufelsgeigers - und, wie man am Mittwoch auch lernen konnte, auch Teufelsgitarristen - Niccoló Paganini war eine weitgehend unbekannte Literatur präsentiert, die auch nach dem fünften Stück noch nicht langweilig wurde, weil die zuweilen ausufernd-rhapsodische Komponierweise Paganinis für gehörig Abwechslung sorgte. Da hatte die Duopartnerin Mira Wang an der Violine mal ganz in der bekannten Weise die hochvirtuose Führungsstimme zu übernehmen, in der "Romanze" aus der Grand Sonata hingegen war es umgekehrt: Getupftes von der Violine untermalte einen von sehnsuchtsvoll tönender Ornamentik nahezu überquellenden Gitarrenpart.

Eskelinen ging diese vornehmlich leisen, sensiblen Töne seines Instrumentes mit viel Besonnenheit an und so konnte man sich auf feinste Klangnuancen konzentrieren, auf den Atem der Musik, den beide im Duo in faszinierender Weise immer wieder neu entwickelten. So kam auch gut heraus, dass Paganinis Stücke manchmal arg zwischen den Stühlen stehen: hier und da findet man noch Alberti-Bässe der Wiener Klassik, doch vor allem die langsamen Sätze seiner Sonaten weisen weit in die Romantik und haben singenden Charakter. Solistisch trat das Duo ebenfalls hervor: Eugène Ysayes fünfte Solosonate mit dem wunderbaren "L'Aurore" als erstem Satz ließ in Mira Wangs kompetenter, klangsatter Interpretation alle Farben eines Tagesanbruchs aufleuchten.

Ismo Eskelinen zeigte im Solospiel mit zwei Bearbeitungen von Manuel de Falla und Isaac Albéniz spanisches Temperament, das aber in seinen Händen so liebevoll und gleichzeitig mit stolzer Haltung geformt war, dass man die Grazie und Noblesse des Flamencos darin wiederentdecken durfte - wahrlich ein meisterliches, die Sinne anregendes Konzert.
(18.2.2016)

Musikalische Stimmungen zum Gedenken

Konzert zum 13. Februar der Dresdner Philharmonie in der Kreuzkirche

Zum Dresdner Gedenktag am 13. Februar steht ernste Musik auf den Programmen der Orchester, und bei Vokalkonzerten lauscht man zumeist einem Requiem oder einer Messvertonung. Michael Sanderling, Chefdirigent der Dresdner Philharmonie, hat in den letzten beiden Jahren mit Aufführungen der 8. und 11. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch diese Tradition zwar nicht aufgebrochen, aber sinnfällig um einige Bezüge erweitert - die direkte Nachvollziehbarkeit von Ereignis und Gedenken wurde eingebettet in ein großräumig angelegtes, humanistisches Feld.

Gedanken zum Gedenken - so könnte man auch die durchaus anspruchsvolle Dramaturgie des diesjährigen Konzertprogrammes umschreiben, denn auf den ersten Blick fällt nicht auf, was die Komponisten Samuel Barber, Peteris Vasks oder Herbert Howells mit dem Dresdner Gedenktag verbindet. Offenkundig schien diesmal eine eher lose Verbindung, die auf dem Erzeugen musikalischer Stimmungen beruhte, im Vordergrund zu stehen. Samuel Barbers berühmtes "Adagio" erzeugt nüchtern betrachtet allein durch seine harmonische Anlage die melancholisch-traurige Emotion. Leider ist dieses Werk schon in seiner Rezeption bekannt dafür, für alle möglichen Gelegenheiten ernster Natur herzuhalten ohne selbst über den Gefühlsfaktor hinaus wirkende, tiefergehende musikalische Aspekte bereitzuhalten.

Von der Orgelempore der Kreuzkirche hinabtönend hatte der Philharmonische Chor unter Leitung von Gunter Berger den Pathos im Zaum und bemühte sich um eine klangschöne Interpretation der Chorfassung des Adagios im recht zügigen Tempo, womit einige Schwierigkeiten des Stückes galant umschifft wurden. Das Hauptwerk des rund eine Stunde währenden Konzertes war das 1939 entstandene Violinkonzert von Benjamin Britten, das selten auf den Podien erklingt, wohl weil es von Solisten einigermaßen gefürchtet ist. Mit einer so souveränen Solistin wie Sophia Jaffé jedoch gelang noch weitaus mehr als die pure Bewältigung des hochvirtuosen und gleichzeitig hochemotionalen Soloparts: sie animierte die Philharmoniker und Michael Sanderling zu rhythmisch pointiertem Spiel und bot eine jederzeit zielgerichtete, atmende Phrasierung an, hier folgte man als Zuhörer gerne der spannungsgeladenen Interpretation.

Ähnlich wie Brittens 3-jährigen USA-Aufenthalt 1939-1942 nicht wirklich als Exil bezeichnen mag, reduzierte sich die Auseinandersetzung mit Herbert Howells Orgelrhapsodie Nr. 3, auf die Information, er habe das Stück "in einer Nacht während des Ersten Weltkrieges in York geschrieben". Aus der spätromantisch empfundenen Musik sprach kaum existenziell Erfahrbares, das übersichtlich-differenzierte Spiel von Kreuzorganist Holger Gehring gefiel dennoch. Schließlich fand sich der Philharmonische Chor im Altarraum bei den Philharmonikern ein, um abschließend Peteris Vasks "Dona Nobis Pacem" (1997) zu musizieren.

Es ist wie Barbers Adagio ein in diatonischen Welten reisendes Werk von innigem Gefühl, das (ausschließlich) mit Melos arbeitet, aber in dieser Reduktion der Mittel kaum eine Wirkung erreicht, die man nicht anders schon sehr viel intensiver erlebt hätte - der Hinweis auf Schostakowitschs langsame Sätze sei hier erneut erlaubt. Gunter Berger hatte aber erneut mit einer fließenden, die Homogenität fördernden Lesart großen Anteil daran, dass man gerne zuhören mochte und die Friedensbitte des Werkes letztlich zu einem wichtigen, zeitlosen Dokument wurde, mit dem jeder im Raum persönliche Gedanken, Erinnerungen und Wünsche verband.
(15.2.2016)

Lohnender Aufwand

Arthur Honeggers "Jeanne d'Arc au bucher" halbszenisch bei der Philharmonie im Albertinum

Es gilt als eines der wichtigsten Oratorien des 20. Jahrhunderts und sicher als ein Schlüsselwerk im Schaffen des Schweizer Komponisten Arthur Honegger (1892-1955), der ansonsten eher durch seine Sinfonien und vor allem das Orchesterstück "Pacific 231" bekannt wurde: das Oratorium "Jeanne d'Arc au bucher", uraufgeführt 1938 in Basel, behandelt die Geschichte der auch als Jungfrau von Orléans bekannten Nationalheldin Frankreichs, die 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Die halbszenische Aufführung der Dresdner Philharmonie im Albertinum geriet zu einem Höhepunkt der laufenden Konzertsaison, und dies nicht nur wegen des enormen Aufwandes und der Anforderungen, die Honegger an seine Ausführenden stellt.

Ein sehr großes Orchester, mit Klavieren, Ondes Martenot und reichhaltigem Schlagzeug besetzt, malt mit vielfältigen Klangfarben die Geschichte aus, Chöre, Sänger und Sprecher widmen sich in elf Szenen einer Rückschau der bereits an den Pfahl geketteten Jeanne d'Arc. Ihr Lebensweg und ihre persönlichen Erinnerungen werden mit Ereignissen verknüpft, die zu ihrer Verurteilung führten. In Honeggers Musik findet dies - in kongenialer Verbindung mit dem Libretto von Paul Claudel - einen kontrastreichen, dramaturgisch überzeugend angelegten Niederschlag. Impressionistisches wechselt da mit opernhaften Szenen, Liedformen oder dem prozessualem Königsmarsch beim Empfang des Königs in Reims - trotzdem bleibt die Musik Honeggers stark der Tradition verpflichtet.

In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Bildende Künste Dresden realisierte die Dresdner Philharmonie eine halbszenische Aufführung, in der die frontale Konzertsituation wenig aufgebrochen wurde, man aber spätestens ab dem Tierprozess der dritten Szene auch mit den Augen stets dabei war. Dabei hätte allein die Qualität der sängerischen und schauspielerischen Darbietung an diesem Abend schon eine konzertante Version gerechtfertigt.

Allen voran brillierte die Schauspielerin Johanna Wokalek als Jeanne d'Arc; ihre einfühlsame Darstellung vereinte das einfache Mädchen vom Lande mit der kettensprengenden Märtyrin. Ebenso herausragend und mit großer Ruhe gestaltete Franz Grundheber, der für Thomas Quasthoff eingesprungen war, seine Sprechrolle als Bruder Dominik.

Auch alle weiteren Solisten bewältigten ihre Partien mit Bravour, wobei die Szenen des Tiergerichts und des Bauernvolks (vorzüglich agierend: Tom Quaas, Imke Büchel und Herbert Lippert) ihre schon von Honegger in der Musik angelegte Überzeichnung erhielten - dem folgte die Regie von Reto Nickler zumeist behutsam und Moritz Haack (HfBK) hatte für die Protagonisten passende, phantasievolle Kostüme entworfen. Eine große Spannung entstand im Hinblick auf die ernsteren Szenen des Werkes mit Jeannes Trösterinnen Katharina und Margarethe (Guanquan Yu, Sopran und Janina Baechle, Alt). Bertrand de Billy, Erster Gastdirigent der Dresdner Philharmonie, hielt als Spiritus Rector der Aufführung mit zumeist straff geführten Tempi alle Fäden gut in der Hand und konnte so den Spannungsbogen bis in die dramatische Verbrennungsszene am Schluss halten. Genau diese aber erfuhr merkwürdigerweise eine szenische Zurückhaltung, wohl um die Aufmerksamkeit wieder auf die Musik zu lenken. Unbedingt herauszuheben ist die Leistung des Rundfunkchor Berlins (Einstudierung Michael Alber), der seine umfangreiche, tragende Rolle im gesamten Oratorium mit höchster Differenzierung zwischen leisestem Flüstern und vollstem Forte-Ausbruch ausgestaltete - dem stand der Philharmonische Kinderchor (Einstudierung Gunter Berger) mit souveränem, klarem Klang in nichts nach.

Eingedenk der Tradition konzertanter Opernaufführungen der Philharmonie in früheren Zeiten ist dies ein neuer Weg, der in Abhängigkeit von Raum, Werk und Umsetzbarkeit unbedingt weiter beschritten werden sollte, wenngleich hier die akustische wie visuelle Darstellung im Albertinum klar ihre Grenzen hatte und auch die akustische Verstärkung nicht immer befriedigen konnte - spätestens ab der zehnten Reihe unterschieden sich die Eindrücke nach dem Konzert doch stark. Unbestritten bleibt jedoch die Tatsache, einem herausragendem Werk des 20. Jahrhunderts in einer fulminanten musikalischen Interpretation beigewohnt zu haben.

Traum CXVII

Von einer ausschweifenden Chorparty wechsel ich mehrfach zum Laden hin und her, wo die Eröffnung gefeiert wird. Bei der Chorparty bin ich am Packen, im Laden herrscht purer Stress. Als dieser irgendwann schließt, stehe ich auf einer Straße hinter einer Mauer, an einem Spielplatz und trinke etwas, Cola aus einer Dose, die oben auf der Mauer steht. Ich sehe einen älteren Mann kommen, ein dürrer Typ mit Brille und grauen schütteren Haaren, er drückt mich hinter der Mauer zu Boden und hält mir etwas an den Hals, ich denke es ist ein Messer, aber es ist ein Gerät, mit dem man die Stimme ausschaltet. Das merke ich, als ich um Hilfe zu schreien versuche und nur ein Geröchel aus meinem Mund kommt. Allerdings hat der Typ, sich siegesgewiss, nicht mit meiner Kraft gerechnet und ich stoße ihn von mir, kniee dann über ihm. In dem Moment wache ich auf, ebenfalls in dieser Pose und muss erstmal durchatmen.

Sonntag, 31. Januar 2016

Genuss der Sonderklasse

Leonidas Kavakos und Robin Ticciati gastieren im 5. Sinfoniekonzert der Staatskapelle

Der Begriff des "Fin de Siècle" ist in der Kunstwelt allgemein bekannt - in der Anwendung auf die Musik der vorletzten Jahrhundertwende ist er zwar auch gebräuchlich, aber man sollte vorsichtig damit sein, über Analysen oder Intentionen von Werken dieser Zeit eine Folie zu legen, die die Gefahr der Indifferenz birgt. Interessant wird es allerdings, wenn die Indifferenz, die dem Begriff schon wegen des Zwischenraums einer Zeitenwende innewohnt, selbst zum Gegenstand der Betrachtung wird.

Insofern hatte das Programm, dass der junge britische Dirigent Robin Ticciati - seit seinem Debüt bei einem Aufführungsabend 2006 ein gern gesehener Gast bei der Sächsischen Staatskapelle - am vergangenen Wochenende zum 5. Sinfoniekonzert zusammenstellte, einen ganz eigenen Reiz. Gustav Mahlers "Blumine"-Satz war ursprünglich zu dessen 1. Sinfonie zugehörig und weist noch frühere Wurzeln auf, doch Mahler strich den Satz wieder aus der Sinfonie, erst 1966 wurden die Noten wiederentdeckt. Ticciati verlieh dem kurzen Stück Atmosphäre und die Berechtigung, in diesem Kontext zwischen Werken des Aufbruchs und solchen mit Nachwehen der Klassik und Romantik zu bestehen.

Auch Jean Sibelius ließ sich im Konzert neu entdecken - dies vor allem, weil mit dem griechischen Geiger Leonidas Kavakos ein absoluter Kenner und Könner des berühmten Violinkonzertes d-Moll, Opus 47 zu erleben war: Kavakos spielte 1991 als erster Sibelius' später aufgegebene Originalfassung des Konzertes ein. Seine Interpretation war von hoher Spannung getragen und man konnte sich für seine wunderbare Klanggebung und das sorgfältige Timing nur begeistern - da war selbst ein einzelner Ton wie das schattenhafte Verklingen des 2. Satzes ein Genuss der Sonderklasse. Kavakos legte die Schönheit dieses Konzertes offen, ohne in eine romantisierende Haltung zu verfallen und fand auf seiner Geige nuancenreiche, kupferfarbene Töne, die man diesem Instrument gar nicht zugetraut hätte. Aus innerer Überlegenheit und Ruhe heraus formte Kavakos das Konzert mit starker eigener Zeichnung und Übersicht für einen großen Atem über alle drei Sätze hinweg - daraus sprach äußerste Wertschätzung für die Musik.

Dieser Willen zum Kolorit übertrug sich auch auf die Kapellmusiker, die in den größeren Tuttipassagen von Mal zu Mal mutiger in der Klangfarbe agierten und Kavakos' Impulse wunderbar aufnahmen. Wie einmalig und auch im besten Sinne schockierend Musik nicht nur die Zuhörer, sondern auch den Interpreten selbst treffen kann, wurde bei der Bach-Zugabe deutlich, nach der Kavakos sich erst einmal selbst von den gerade verklingenden Noten erholen musste - von der Bühne lassen wollte ihn das Publikum danach kaum noch.

Im zweiten Teil des Konzertes ging es weiter mit Musik an der Zeitenwende: Maurice Ravels 1911 entstandene "Valses nobles et sentimentales" sind eine eigenartig luftige Zwischenraummusik mit Franz Schubert im Rücken und der walzerseligen Vorkriegszeit im Auge. Robin Ticciati arbeitete die Eleganz dieser Musik hervorragend heraus und sorgte vor allem mit freundlicher Ermunterung für den richtigen Swing im Dreiertakt. Gleiches galt für Claude Debussys Orchesterskizzen "La Mer" (1905), wenngleich hier die von Ticciati stets spürbare Sorgfalt der Darstellung etwas im Widerspruch zur beschriebenen ungezügelten Naturkraft stand: so säuberlich aufgereiht und gleichzeitig mit weichem, feinem Glanz versehen hat man Debussys Wellenspiele selten gehört.
(25.1.2016)

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