Freitag, 10. Juni 2011

Pessimistische Litanei des Urbanen

Monodram "Der Riß durch den Tag" von Johannes Maria Staud uraufgeführt

Nach dem Orchesterstück "Tondo" des aktuellen Capell-Compositeurs Johannes Maria Staud, das vor Monatsfrist im Sinfoniekonzert der Staatskapelle uraufgeführt wurde, kam es am vergangenen Sonnabend in einem Sonderkonzert zu den Dresdner Musikfestspielen zu einer weiteren Premiere, diesmal in der Halle der VW-Manufaktur.

Dabei trafen zwei Capell-Compositeure erstmals in einem Konzert aufeinander, denn Isabel Mundry, 2007 erste Capell-Compositrice der Staatskapelle, war eingeladen, ihre 2010 uraufgeführten "Scandello-Verwehungen" für Chor und Ensemble erneut zu präsentieren. Das "Vocal Concert Dresden" (Leitung Peter Kopp) präsentierte zunächst von einer Empore wirkungsvoll Gloria und Credo aus der 1553 entstandenen Messe von Antonio Scandello - ebenfalls ein früher Hofcompositeur in Dresden und einer der ersten, der aus Italien eintraf und damit eine äußerst fruchtbare musikalische Epoche in Dresden einleitete. Mundrys "Verwehungen" bewegen sich ganz auf dem Boden dieser Musik; sie verwischen, verstärken und spiegeln bestimmte Aspekte - eine Art neuer Renaissance-Drive entsteht da, der Altes nicht verleugnet und mit Wahrnehmungsphysiologien bewusst spielt. Akustisch konnte man mit dem Ergebnis (der Chor stand nun vor einem immensen schwarzen Vorhang) aber nicht zufrieden sein, so transparent das kleine Kapell-Ensemble unter Gastdirigent Asher Fisch auch musizierte.

Nach der Pause wurde Stauds Monodram "Der Riß durch den Tag" aus der Taufe gehoben - es ist nach der Oper "Berenice" (2004) Stauds zweite Zusammenarbeit mit dem Dichter Durs Grünbein. Zwar ist dieser in Dresden geboren und sein Text (aus: "Nach den Satiren" aus dem Jahr 1999) zeigte ganz eindeutig die Beschäftigung mit urbanen Perspektiven und Atmosphären, doch ist der Rahmen weiter gefasst. Im Mittelpunkt steht eine dramatische, be- und aufgeladene und wenig optimistische städtische Bilderwelt, die Staud vermutlich eine mühelose musikalische Projektionsfläche anbot - Poesie wird hier zu einer Litanei des kaum Erträglichen, der Ausweg geht nur über Ignoranz oder einer möglichen Wendung nach innen. Die bleibt (fast) aus in Grünbeins Text - Wandlung oder Reinigung scheint nicht beabsichtigt.

Trotzdem ordnet Staud die musikalischen Formen in fünf Teilen fast klassisch an und strukturiert daher den oft blutigen Wörtersee stimmig, um nicht zu sehr in die Abstraktion zu gleiten. Durch die kluge Proportionierung von Wort und Musik sorgte Staud auch für eine Deutlichkeit in der Darstellung. In den Möglichkeiten des großen Kammerensembles fand er zudem plastische Gesten des (nur selten theatralischen) Kommentars - von der Staatskapelle wurde das sehr engagiert umgesetzt. Eine bessere Besetzung als der Schauspieler Bruno Ganz in der Sprecherrolle war kaum denkbar - Ganz füllte das Monodram nicht mehr und nicht weniger als ein professionell geführtes Instrument aus, stellte sich in den Dienst der Musik und des Textes und ließ so ausreichend Gedankenfreiheit beim Zuhören zu.

Aufrechter Untergang

Mahlers 6. Sinfonie mit den Berliner Philharmonikern

Äußerst gespannt erwartete das Publikum im voll besetzten Semperbau das Gastspiel der Berliner Philharmoniker unter Leitung ihres Chefdirigenten Sir Simon Rattle bei den Dresdner Musikfestspielen. Vor dem Konzert wurde dem Orchester der "Glashütte Original Musikfestspiel Preis 2011" verliehen, und zwar für das Education-Programm "Zukunft@BPhil", das seit mehreren Jahren auf höchstem Niveau nicht nur Nachwuchskünstler fördert, sondern umfangreich Vermittlung, Workshops und Projekte mit Jugendlichen innerhalb und außerhalb von Schulen initiiert.

Dass Kirchentagspräsidentin Katrin Göring-Eckardt die Laudatio hielt, war nicht nur als nette Geste zwischen beiden Veranstaltungen gemeint, sondern zeigte einmal mehr, dass gesellschaftliches Engagement alle angeht und in den vielfachen Verbindungen ein nicht zu unterschätzender Wert geschaffen und gehalten wird. Wie konnte man sich aber nach dieser festlichen und Hoffnung machenden Preisverleihung auf das einzige sinfonische Werk des Abends einlassen, Gustav Mahlers 6. Sinfonie, die einem bereits mit den ersten harten Schlägen des "Allegro Energico" alle Zuversicht raubt?

Das nur als großartig zu bezeichnende Konzert schaffte genau diesen Brückenschlag: Musik eröffnet einem ungeahnte Welten, wenn man sich als Interpret wie als Zuhörer hundertprozentig darauf einläßt - der stürmische Beifall am Ende war also auch ein Akt des bedingungslosen Nachvollzugs, den die Interpretation von Sir Simon Rattle möglich gemacht hatte und so enorm tief ging. Alle Sinfonien von Mahler mögen einzigartig in ihrer Konzeption sein, in ihrer Konsequenz der Darstellung des Unabwendbaren, einhergehend mit einer sich immer dunkler färbenden, zerstörischen und bitteren Emotionswelt, ist diese Sinfonie vergleichslos.

Rattle interpretierte die Sechste daher auch schonungslos und doch mit höchster Aufmerksamkeit und Kontrolle. Dies bedeutete auch ein scharfen Hineinleuchten in feinste Details, dazu kam eine satzübergreifende Tempoarbeit, die von allen mitgetragen wurde und so brauchte Rattle selbst bei flexiblen Übergängen kaum Unterstützung leisten: der Weg war allen klar, Rückkehr unmöglich. In immer neu aufgeladenen Wellen formte sich schon im 1. Satz in eine unglaublich greifbar klingende Energie. Für jedes Thema, jede noch so kurze Geste des gefühlvollen Aufflimmerns gab es bei allen Musikern genaueste Klangvorstellungen; so entstand ein monumentales Fresko einer inneren Katastrophe, in der selbst die Herdenglocken kaum mehr als glaubhafte Reminiszenz vergangener Welten wahrgenommen konnten.

Das Andante inszenierte Rattle nicht als Beruhigung, stattdessen setzte sich der Bildersturm auf einer inneren Ebene fort; die Berliner behielten den dumpf-herben Ton selbst in den letzten Resten eines unmöglich scheinenden lyrischen Ausweges bei. Der morendo-Ausklang dieses Satzes verhieß nichts Gutes mehr, die Tür zum Jenseits war mit Beginn des Scherzos, in dem die Bläser einen Höllentanz vollführten, weit aufgestoßen. Und doch hatte Rattle selbst im Finale noch Mut, Akkuratesse und zauberhaften Glanz in zurückhaltenden solistischen Passagen zu formen: den beiden Hammerschlägen und dem Ende, dem nichts mehr folgen kann, wurde mit offenen Augen entgegengesehen: ein aufrechter sinfonischer Untergang.

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