Sonntag, 10. Mai 2015

Mein #bphil Zettel

Morgen wird der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker gewählt. Ich kann mich nicht erinnern, dass es bei Abbado oder Rattle so einen Hype darum gegeben hat und im Spekulationsniveau unterbietet sich das hehre Feuilleton ("Die Favoriten im Gerüchte-Check") gegenseitig. Die Medien meinen zu wissen, wer überhaupt in Frage kommt. Je nach Gusto sind es 7 (tagesspiegel), 5 (ZEIT) oder 3 Kandidaten (Berliner Morgenpost). Dabei haben sich einige dieser Dirigenten schon durch eigene Bekundungen oder Vertragsverlängerungen aus dem Rennen genommen - alle üben sich im Understatement ("Mir geht's hier wahnsinnig gut" - Thielemann über Dresden) und dürften die massiven Spekulationen mit einigem Vergnügen lesen. Wer Jansons, der nun in München verlängert hat, bis zuletzt zuoberst auf dem Zettel hatte, darf sich mit einem Tränchen im Knopfloch heute übrigens dessen Konzert mit den Berlinern in 130 Kinos bundesweit ansehen.

Die am häufigsten Genannten sind Christian Thielemann, Mariss Jansons, Andris Nelsons, Daniel Barenboim, Gustavo Dudamel, Riccardo Chailly, Riccardo Muti, Kirill Petrenko und Yannick Nézet-Séguin. Nur hier und da am Rande erwähnt werden Iván Fischer, Paavo Järvi, Daniel Harding, Philippe Jordan, Pablo Heras-Casado, Teodor Currentzis, Alan Gilbert, Vladimir Jurowski und Esa-Pekka Salonen. Letztere sind also eher die Geheimtipps oder auch die persönlichen Pushs einiger Redakteure - man könnte noch einige mehr hinzufügen. Habe ich jemanden überlesen/vergessen?

Dieser Blogeintrag sei lediglich mein Zettel für morgen, über die Kandidaten wurde genug geschwatzt. Einer wird es.

Die letzten Verlautbarungen:
* Süddeutsche: "Der Welt entfliehen" (Brembeck)
* ZEIT: "Das Maestro-Syndrom" (Lemke-Matwey)
* Tagesspiegel: Wer wird am Montag neuer Chefdirigent (Kommentar, Hanssen)
* Musik in Dresden: "Was bleibt, wenn er geht?" (Morgenstern)

Meditatio Mortis

Peter Gülkes neues Buch "Musik und Abschied"

Dass wir vom Tod oft mitten im Leben umfangen sind, ist uns nicht nur aus Luthers Zeilen wohlbekannt. Zu gewissen Zeitpunkten müssen wir ihn alle erleben, erdulden und uns damit auseinandersetzen. Ebenso entstehen wiederkehrend Gedanken über die eigene Sterblichkeit und Existenz. Doch eine Selbstverständlichkeit, gar Akzeptanz von Tod und Vergänglichkeit mutet uns angesichts der Größe und Komplexität des Themas fremd an. Oft genug stößt man an die Grenzen des Begreifens, fehlen einem die Worte. An diesem Punkt eines tiefgreifenden eigenen persönlichen Erlebnisses angelangt, widmete sich der Dirigent, Musikwissenschaftler und Siemens-Preisträger Peter Gülke der Musik, die im Angesicht des Todes oder eines Abschieds zu allen Zeiten der Musikgeschichte komponiert wurde und zeichnete seine Gedanken auf.

Gülke kann aufgrund seiner überreichen Erfahrung eines Lebens in der Musik damit nicht nur eigene Trauerarbeit in klingender, bereichernder Umgebung vollziehen, er gibt nun diese Betrachtungen an seine Leser weiter. Am Montagabend stellte Gülke "Musik und Abschied" im Gespräch mit dem Germanisten Ernst Osterkamp in der Sächsischen Akademie der Künste vor und es wurde schnell deutlich, dass es sich bei den insgesamt 54 Essays nicht um ein "Potpourri mit Trauerrand" handelt, sondern - die Formulierung des Adam von Fulda schwebt gleichsam als Motto über dem Buch - eine "meditatio mortis". Keineswegs ist dies aber ein Buch, das nur in dunklen Stunden gelesen werden sollte, und erst recht nicht eines, das einem enzyklopädischen oder wissenschaftlichem Anspruch Genüge tun will.

Gewählt hat Gülke eine literarische Form der Annäherung und Umkreisung, die das "Bewusstsein des Danebentreffens" im Wort, so Gülke, einschließe. Denn wie erklären wir uns berühmte letzte Werke, wo doch das Vergehen selbst in der Musik schon immanent ist und der Augenblickscharakter von Musik auch da wirkt, wo gar nicht vom Tod die Rede ist? Wie stehen wir - mitten im Leben - einem Werk gegenüber wie etwa Bachs "Kunst der Fuge" oder dem Adagio in Bruckners 9. Sinfonie, in dem sich bereits der Himmel zu öffnen scheint und die ohnehin bereits "dem lieben Gott" gewidmet ist? Gülkes neues Buch ist in besonderer Weise eine Niederschrift intensiven Nachdenkens über Musik - das schließt die Form des Essays samt eingeschobener Selbstgespräche ein, die Gedankenexperimente ebenso zuläßt wie Fragmentarisches, gar Aphoristisches. Denn, um bei einem von Gülke geliebten Abschiedswerk zu bleiben, angesichts des Streichquintetts C-Dur von Franz Schubert, endgültige Antworten zu geben, liegt kaum einem Buch wie diesem ferne - Gülke nimmt uns nicht die Sprachlosigkeit, aber er zeigt sie uns.

Und so faszinieren letztendlich die vielgestaltigen Aspekte des Themas, die einem nun fast überlebendig (sic!) und farbig schillernd aus dem Buch entgegenleuchten: etwa das "Singen über Abgründen", was wir auch in Schuberts Winterreise finden, oder die nicht dem Glauben widersprechende Ratlosigkeit Johann Sebastian Bachs, wenn er in den Passionen den Moment des Todes auskomponiert, die Todesvokabeln in alten Motetten wie auch zeitgenössischer Musik oder gar ein dröhnendes C-Dur, das nach Wahrheit fragt. Von Fragen handelt das Buch, muss das Buch mehr handeln als von Antworten und doch wird der Leser reich beschenkt, weil Gülkes universelles Wissen um Zusammenhänge in der Musikgeschichte, den Biographien, den Sach- und Zwangslagen der Komponisten und ihrer historischen Umgebung wie selbstverständlich einfließen. Die Demaskierung des Zitterns und Fürchtens im Kapitel "Tage des Zorns", das eben manche Komponisten nicht komplizenhaft und dem Text ausgeliefert vertonten, ist da ebenso überraschend zu lesen wie das Essay "Frauen sterben anders" - dem lakonischen Titel folgt eine feinsinnige Analyse von Bühnenfiguren bei Purcell, Puccini und Janáček.

Wenn wir die Größe eines Spätwerks (auch diesen Begriff überzieht Gülke im Buch wie im Gespräch mit dem berechtigten Stirnrunzeln, dem sogleich das Weiterdenken folgt) eines Beethoven, Mahler, Schubert oder Schostakowitsch vor der Lektüre von "Musik und Abschied" nur geahnt haben, so sind wir ihnen mit Gülke vielleicht ein Stück näher gerückt. Die Dimension des Begriffes der Zumutung, den Gülke angesichts des Alterswerkes einiger Komponisten wählt, wird einem in der Erschütterung des Hörens bewusst. Zum Hören, und das ist die wohl schönste Wirkung des Buches, lädt "Musik und Abschied" ausdrücklich ein. Peter Gülke verriet im Gespräch ein Geheimnis des eigenen Ansporns: "Musik, die ich schön finde, finde ich noch schöner, wenn ich darüber noch mehr herausfinde." Dies kann auch ein Leitspruch bei der Lektüre dieses Buches sein, in dem oft weit über das Thema hinaus einen hallender, tönender Raum geöffnet wird und die Musik beim Lesen zum treuen Begleiter gerät.

* Peter Gülke - Musik und Abschied, 362 S., Verlag Bärenreiter/Metzler
ISBN 978-3-7618-2377-4

Leidenschaftliche Botschafter für die gute Sache

Das World Doctors Orchestra gastierte in der Kreuzkirche

Mit etwas Ratlosigkeit im Blick standen die beiden Sanitäter des Malteser-Hilfsdienstes am Freitagabend im Eingangsbereich der Kreuzkirche. Sie verrichteten dennoch freundlich ihren obligaten Dienst, auch wenn dieses Mal rund neunzig Doktoren auf der Bühne saßen, Pflegepersonal für den Einlass zuständig war und auch im gefüllten Kirchenrund noch einmal viele Besucher saßen, die ihre OP-Kleidung am Abend gegen den Anzug eingetauscht hatten. Grund der außergewöhnlichen Veranstaltung war ein Benefizkonzert des World Doctors Orchestra, das erstmals in Dresden gastierte. 2007 vom Musiker und Mediziner Stefan Willich, der auch das aktuelle Konzert leitete, gegründet, tourt das Orchester mehrmals im Jahr mit dem Benefizgedanken und klassischen Partituren im Gepäck durch die Welt. Dabei wird nicht nur die Hand für Spenden aufgehalten, die Ärzte engagieren sich auch an den jeweiligen Konzertorten für die Nöte und aktuellen Probleme der Menschen - auch in Dresden haben Musiker des Orchesters während der Probenphase bereits in Schulen und Krankenhäusern gespielt.

Der Erlös des Konzertes in der Kreuzkirche kam der Hope-Stiftung Kapstadt und der Michaelis-Epilepsie-Stiftung zu Gute. Damit, so formulierten es Sozialministerin Barbara Klepsch und Ministerpräsident a. D. Kurt Biedenkopf in ihren Begrüßungen, verschreibe sich das Orchester der wichtigen Aufgabe, Not an Ort und Stelle zu überwinden und sich den Problemen der Menschen zielgerichtet zu widmen. Und schließlich habe die Musik die verbindende Funktion einer weltumfassenden, auch heilenden Sprache. In Dresden ist solches Engagement übrigens kein Fremdwort: von vielen Ärzten kennt man Haus- oder Praxiskonzerte, andere musizieren selbst in Chören und Ensembles, und das Orchester "medicanti" an der Uniklinik besteht seit über 25 Jahren. Wohl auch deswegen bildeten sich lange Schlangen am Eingang der Kreuzkirche; man war gespannt, wie die neunzig Musiker aus 15 Ländern das sinfonische Konzertprogramm gestalten würden.

Unterschätzen darf man die Doktoren mit der Geige an der Schulter indes nicht: viele haben sogar ein Doppelstudium hinter sich oder arbeiten regelmäßig mit Profimusikern. Trotzdem war das romantische Programm sehr anspruchsvoll - mit der "Meistersinger"-Ouvertüre von Richard Wagner, dem Cellokonzert von Antonín Dvořák und der 4. Sinfonie von Robert Schumann standen beliebte Werke auf dem Programm, die durchaus nicht "prima vista" gespielt werden können. Ein gewisser Hauch von Abenteuer war an einigen Notenpulten sicher nicht von der Hand zu weisen, aber es war auch imponierend, mit welcher Konzentration sich das Orchester den Werken widmete. Vor allem Anna-Margarete Kries gab wertvolle Impulse vom Konzertmeisterpult der Geigen und brillierte auch im Dialog mit Ludwig Quandt, dem Solisten im Cellokonzert h-Moll von Antonín Dvořák. Quandt, Solocellist der Berliner Philharmoniker, inspirierte das Orchester zu aufmerksamem Spiel und gestaltete den 1. Satz so kraftvoll, dass es nicht nur Zwischenapplaus gab, sondern die einfühlsamen Welten des kammermusikalischen 2. Satzes als Kontrast gut zur Geltung kamen. Überhaupt war das Cellokonzert ein Höhepunkt des Konzertes, denn auch vom Solo-Horn und der Bläsergruppe konnte man sehr schöne Gestaltung vernehmen.

Dirigent Stefan Willich leitete dann zum Abschluss eine spannungsreiche Aufführung der 4. Sinfonie d-Moll von Robert Schumann und konnte die Charakteristika der Sätze zwischen Melancholie und forschem, fröhlich daherkommendem Selbstbewusstsein gut ausformen. Glückliche Gesichter auf dem Podium und stehende Ovationen kündeten von einer gelungenen Veranstaltung für eine gute Sache - die Botschaft einer grenzen- und interessenlosen grundsätzlichen medizinischen Versorgung, für das sich das World Doctors Orchestra einsetzt, wurde hier auf eine sympathische und gleichzeitig sensibilisierende Art und Weise transportiert.
(27.4.15)

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